Da sind Sie platt

Die Zeit, 1.10.2020

"Die Leute sagten immer: Mit der Bahn durch die Stadt fahren, das kann doch nicht so schwer sein. Aber für uns Fahrer ist das eine psychische Belastung. Stellern Sie sich vor, Sie fahren mit dem Auto sieben oder acht Stunden in den Urlaub. Da sind Sie ziemlich platt. Das machen wir jeden Tag – und zwar nicht auf der Autobahn, sondern quer durch die Stadt. Das heißt: Fußgänger, die plötzlich auf die Gleise laufen, Fahrradfahrer, die sich vorbeischlängeln. Eine Straßenbahn hat den doppelten Bremsweg eines Autos, Sie können auch nicht einfach mal ausweichen. Und es kommt auch vor, dass es zwischen Fahrgästen Streit gibt – die Spätschicht geht manchmal bis 4.30 Uhr am Morgen." Roger Eichelmann, Straßenbahnfahrer in Berlin, im Interview

ver.dis gutes Recht

Die Welt, 20. September 2020

Warnstreiks? Gut so! Als das Coronavirus auch über Deutschland kam, wurde fast die ganze Gesellschaft wie ein Computer heruntergefahren. (…) Es war kaum noch zu übersehen, dass das Funktionieren unserer Sozietät von zahlreichen unverzichtbaren Berufen – Krankenschwester, Pfleger, Zusteller, Arzt – abhängt, die jedoch längst nicht so wertgeschätzt und bezahlt werden, wie es der Anstand gebieten müsste. (…) Wenn die Gewerkschaft ver.di im Rahmen der Tarifverhandlungen jetzt Warnstreiks ankündigt, geht ein genervtes Stöhnen durch die Gesellschaft. (…) Dennoch ist es das gute Recht von ver.di, sich nicht von dem Argument beeindrucken zu lassen, die öffentlichen Kassen seien klamm. Unser politisches System kennt gottlob nicht den Ausnahmezustand, der es erlaubte, materielle Konflikte zu verbieten. Zumal die Tarifrunde ja ein erster Ansatz sein könnte, jenen Beschäftigten praktisch Anerkennung zu zollen, die tagtäglich im Maschinenraum der Gesellschaft sitzen.

Am finanziellen Tropf

Nordwest-Zeitung, 30.September 2020

Und den Gewerkschaften fällt offenbar nichts Besseres ein, als in den Kampf zu ziehen. Unverschämt und unverantwortlich? Nein, das Streikrecht gehört zu den Grundrechten. Und es ist legitim, dass Verdi, Beamtenbund und Co. versuchen, bessere Bedingungen für die Beschäftigten auszuhandeln. Vom Applaus auf dem Balkon können sich Pflegekräfte oder Kita-Beschäftigte nichts kaufen. Und viele Kommunen hingen schon vor der Corona-Krise am finanziellen Tropf.

Manchmal für alle

Jetzt.de, 18. August 2020

In modernen Arbeitsverhältnissen werden die Jüngeren für ihren Einsatz mit gratis Espresso und Obsttellern belohnt. Es gibt Feelgood-Manager und Teambuilding-Events. Das ist durchaus nett. Aber reicht das? Eher nicht. Rund 40 Prozent der Menschen unter 30 haben einen befristeten Vertrag. Die Jugend von heute, ergab eine Studie von 2016, verdient weniger als die Jugend von vor 30 Jahren. Dagegen schimpfen und klagen kann man durchaus allein. Schlagkräftiger ist aber zumeist ein Betriebsrat. Und nur weil man seinen Unmut an diesen auslagert, ist man nicht gleich schwach oder feige, sondern vielmehr solidarisch. Denn den Betriebsrat darf der Chef nicht einfach so rausschmeißen, wenn er ihm zu aufmüpfig ist. Außerdem spricht er nicht nur für die mitunter egoistischen Befindlichkeiten des Einzelnen – sondern für viele, manchmal sogar für alle.

Wieder was gelernt

ver.di Jugend Livestream, 13. Oktober 2020

"Das haben wir in der Pandemiezeit gelernt: Gewerkschaftsmitgliedschaft ist Herdenimmunität und Schutz vor Ausbeutung und schlechten Arbeitsbedingungen." Kevin Kühnert, SPD