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Foto: Adrian Samson

Róisín Murphy: Róisín Machine

Wer gern tanzen geht, hat es gerade wirklich nicht leicht. Die Polizei hebt illegale Partys aus, Clubs fürchten um ihre Existenz, Party-Enthusiasten demonstrieren gegen Corona-Maßnahmen. Aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: Eine durchtanzte Nacht voller Schweiß, sexueller Energie und körperlicher Nähe wird von all den kulturellen Vergnügungen, die sich der Mensch so ausgedacht hat, die allerletzte sein, die wir uns wieder gönnen werden.

Ist das die richtige Zeit, ein Album voller Disco-Hymnen herauszubringen? Ja, gerade jetzt, sagt Róisín Murphy mit ihrem neuen Werk Róisín Machine. Die Songs sind hochfahrend und trotzig, die Beats gehen direkt in die Beine. Die Maschine aus dem Titel ist eine mit den Mitteln der siebziger Jahre aktualisierte Version von James Browns Sex Machine. Ein Rhythmus, der niemals verstummt, und die Tänzer und Tänzerinnen immer weitertreibt, bis sie in der Ekstase miteinander verschmelzen zu einer großen glückseligen Einheit.

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Murphy wurde in den Neunzigerjahren mit ihrer Band Moloko bekannt. Sie sang elegante, kühle Hits wie Sing It Back, die Dance-Beats in die Charts brachten, aber auch gut zum dekantierten Rotwein passten, und trug das blonde Haar glatt. Gepflegte Cocktailpartys lässt die 47-Jährige mittlerweile aber links liegen. Statt dessen stilisiert sie sich mit Lockenmähne und kräftigem Lidstrich zur Tanzboden-Diva und feiert die Anfänge der Disco-Kultur. Damals, in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren, tanzten in New Yorker Clubs wie Danceteria, Paradise Garage oder Studio 54, in dem wohl auch Donald Trump Stammgast war, nicht nur die Reichen und Schönen, sondern auch Schwarze und Latinos, Schwule, Lesben und Transsexuelle zu den pumpenden Hymnen von Donna Summer, The Chic oder Gloria Gaynor. Während das Stroboskop flackerte, konnte sich jeder nach Herzenslust neu erfinden. Auf dem Dancefloor ist jeder gleich, so zumindest die Theorie, bis der Kommerz die Discothèque stürmte und die Kultur zuerst zum weltweiten Phänomen wurde, bevor sie zum Mainstream verkam.

Auf Róisín Machine wird diese glorreiche Ära, dieses Versprechen, das stets nur eine Nacht lang galt, bevor es wieder vergessen wurde, noch einmal heraufbeschworen. Es ist derselbe Geist, den aufzuspüren sich in den Achtzigerjahren die Rave-Adepten aufmachten oder in den Neunzigern die Techno-Jünger. Ein Geist, den Róisín Murphy jetzt noch einmal zum Tanzen bringt – gerade weil wir zurzeit nicht tanzen können. Thomas Winkler

CD, Skint/Warner

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Dino Saluzzi: Albores

Als Dino Saluzzi Anfang der 1980er Jahre seine ersten Konzerte in Europa gab, pries man ihn als Vertreter des neuen Tangos. In den Jahren danach stellte sich dann heraus, dass der Bandoneon-Spieler aus Argentinien über eine weitaus größere musikalische Palette verfügt. So gibt es Aufnahmen mit seiner Family-Group, mit international renommierten Jazzmusikern sowie mit Kammer- und Orchestermusik. Nun also wieder eine Platte, auf der sich der 85-Jährige ganz auf sein argentinisches Knopfakkordeon beschränkt. Das Instrument, das ihn seit seiner Kindheit begleitet und auf dem Saluzzi eine unvergleichliche Soundqualität erreicht hat. Ob nun Milongas aus Buenos Aires oder Volksmusik der Anden aus seiner nordargentinischen Heimat, nie geht es ihm um Oberflächliches, immer dringt er ein in die tieferen Schichten der Musik, begibt sich auf die Suche nach ihrer Essenz. Albores ist das Geschenk eines altersweisen Musikers, der niemandem mehr etwas beweisen muss, und ein vorzüglicher Begleiter für lange Herbst- und Winterabende. Peter Rixen

CD, ECM

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Bruce Springsteen: Letter To You

Nach einem verhaltenen Beginn legt die E Street Band los. Und da ist es wieder: das überbordende Pathos und die raumgreifenden Melodien, die Gitarren in Cinemascope, der amerikanische Traum – und im selben Atemzug die Melancholie, dass er bereits ausgeträumt sein könnte. Auf Letter To You präsentiert sich Bruce Springsteen nach zuletzt einigen altersweisen, zurückgenommenen Alben wieder als der gebrochene Held, als der er einst berühmt wurde. Die Songs dieses 20. Studio-Albums taumeln beständig zwischen Aufbruchsstimmung und Depression, zwischen Sturm und Drang und Wehmut – wie die USA, denen der mittlerweile 71-jährige Springsteen wie gewohnt den Puls liest. Ausdrücklich politische Songs hat er trotzdem nicht geschrieben, auch wenn er in Interviews mit seiner Meinung zur Politik eines gewissen Präsidenten nicht hinter dem Berg hält. Rainmaker, ein Abgesang auf Bauernfänger und ihre falschen Versprechungen, könnte zwar auf Trump gemünzt sein, aber in den meisten Songs spürt Springsteen der Seele eines Landes nach, das sich zu verlieren droht. Denn selbst im Himmel, stellt Springsteen in If I Was The Priest fest, geht es nicht mehr zu wie früher. Thomas Winkler

CD, Columbia/Sony Music