Ausgabe 08/2020
Bis man sich kennt
Sabbatjahr – das klingt nach Weltreise oder Südseeurlaub. Maike Wöhler aber verbringt ihre Auszeit lieber in Wiesbaden-Biebrich oder in Schortens-Roffhausen bei Wilhelmshaven. Und das nicht etwa zum Chillen, sondern zum Arbeiten. Genauer: zum Aufarbeiten eines bestimmten Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte.
Bis Anfang 2018 setzte sich Wöhler noch täglich an ihren Schreibtisch im Jobcenter, um Stellen zu vermitteln und Erwerbslose zu beraten. Doch dann ließ sie sich beurlauben, unbezahlt. Seitdem wühlt sie sich durch Berge von Archivmaterial und führt Dutzende von Interviews. Sie will herauszufinden, wie es Männern und Frauen aus Griechenland ergangen ist, die in den 1960er Jahren als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland kamen.
Damals, in den Wirtschaftswunderjahren, wurden Ausländer dringend als Arbeitskräfte gebraucht. Die Kalle AG, ein Chemiewerk im Wiesbadener Stadtteil Biebrich, war eine jener Fabriken, in denen neben anderen Ausländern auch Hunderte von Griechen schufteten. 500 Kilometer nördlich, in der längst abgewickelten Büromaschinenfabrik Olympia vor den Toren Wilhelmshavens, dürften es sogar bis zu 5.000 gewesen sein. Auf diese beiden Unternehmen konzentriert sich die Bremerin, die von sich sagt: "Ich möchte gegen das Vergessen anschreiben und etwas gegen den allgemeinen Rechtsruck unternehmen."
Der Optimismus siegt
ver.di-Mitglied Wöhler, Mitte 50 und alleinerziehende Mutter eines Sohnes, kehrt mit ihren Erkundungen auch zurück zu ihren beruflichen Wurzeln. Die gebürtige Mainzerin ist nämlich eigentlich Kulturwissenschaftlerin. "Ich wollte immer was mit Menschen machen. Und forschen", erzählt sie bei italienischem Gebäck in ihrer selbstrenovierten Datscha, in der sie sich manchmal eine kleine Auszeit von der Auszeit gönnt.
Aber wie das so ist bei der Kulturwissenschaft: Nach dem Examen fand Wöhler keine passende Stelle. Mal arbeitete sie als Öffentlichkeitsreferentin bei einer Wiesbadener Klinik, mal war die junge Mutter erwerbslos und gründete mit anderen jobsuchenden Akademikerinnen das Unterstützungsnetzwerk "Die Optimistinnen". Der Optimismus siegte: 2004 landete sie als Quereinsteigerin bei der Arbeitsagentur in Bremen, zunächst befristet, später dauerhaft im benachbarten Jobcenter.
Als 2015 die Flüchtlingszahlen in die Höhe schnellten, fragte sich Wöhler: "Wie kannst du diese Menschen unterstützen? Früher warst du selbst mal in einer Notsituation." Nämlich als Erwerbslose. Sie besuchte eine interkulturelle Weiterbildung und ließ sich zu einem Projekt zur Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse abordnen. Aber sie wollte tiefer schürfen und außerdem ihrem Forschungsdrang nachgehen. So reifte in ihr der Entschluss, sich von der Arbeit beurlauben zu lassen, um die Geschichte der einstigen Gastarbeiter*innen aufzuarbeiten und daraus Lehren abzuleiten für die Integration der Zuwandernden von heute.
Für ein reguläres Sabbatjahr – also eine Freistellung mit reduziertem Gehalt nach jahrelanger Ansparphase – reichte es bei ihr nicht. "Dafür war ich noch nicht lang genug im Dienst." Aber einen unbezahlten Urlaub, den bekam sie genehmigt, vor allem, um sich um eine pflegebedürftige Angehörige in Frankfurt am Main zu kümmern.
Die Kofferkinder
Das tat sie dann auch. Doch daneben blieb noch Zeit, um sich in ihr Forschungsabenteuer zu stürzen. Nur: Wie findet man "Gastarbeiter*innen" der ersten und zweiten Generation für Interviews? "Wenn ich gewusst hätte, wie schwierig das ist...", sagt Wöhler und lacht.
Immerhin kannte sie eine griechische Großfamilie in Wiesbaden. Und die ließ sich gern interviewen. Damit stand für Wöhler fest, sich auf diese Nationalität zu beschränken: "Dabei war ich noch nie in Griechenland." Monatelang suchte sie vergeblich nach weiteren Gesprächspartner*innen und schrieb deutsch-griechische Vereine an. "Keine Antwort, nix." Schließlich wandte sie sich an die griechisch-orthodoxe Gemeinde in Wiesbaden-Biebrich, dem Sitz der alten Chemiefabrik Kalle. Das war der Durchbruch. Erzpriester Vater Georgios lud sie zum Gottesdienst ein, bei dem sie zwar kein Wort verstand, aber ihre Interviews waren gesichert. Insgesamt wurden es für ihr Wiesbaden-Projekt über 80 Gespräche, gut die Hälfte davon mit der griechischen Community, die anderen mit Integrationsbeauftragten, Sozialarbeiterinnen oder Stadtarchivaren.
"Da flossen auch Tränen", erinnert sich die einfühlsame Forscherin. In ihr Gedächtnis eingebrannt haben sich vor allem Erzählungen über die Migrantenkinder. Sie blieben oft bei Verwandten in der Heimat und sahen die Eltern manchmal nur alle paar Jahre. Mit 12 oder 14 Jahren wurden sie allein auf die Reise nach Deutschland geschickt, entweder zu einem der raren Elternbesuche oder um später selbst hier zu arbeiten. "Kofferkinder" nannte man sie, auch wenn sie manchmal nur mit einem Hirtenbeutel voller Proviant in den Zug stiegen.
Als alle Interviews geführt und alle Archivunterlagen gesichtet waren, setzte sich Wöhler ans Schreiben. Herausgekommen ist ein 92-seitiges Buch mit dem Titel "Man ist nur so lange fremd, bis man sich kennt".
Inzwischen war das erste Jahr der Beurlaubung um, aber Wöhler hatte Lust auf mehr. Sie verlängerte ihre Auszeit bis Ende 2021 und nutzt jetzt den Freiraum für ihr zweites Projekt: griechische Arbeitsmigration bei den einstigen Olympia-Werken in Friesland. Manch eine*r kennt die Firma wegen ihres legendären Schreibmaschinenmodells "Monica". "Zu Olympia kam ich wie die Jungfrau zum Kinde", sagt Wöhler, nämlich, indem sie zufällig einen ehemaligen Olympia-Betriebsrat kennenlernte. Der half ihr bei der Suche nach Gesprächspartner*innen. Zeitungsaufrufe taten ein Übriges. Auch der Oberbürgermeister von Wilhelmshaven und der Landrat des Kreises Friesland haben sie schon empfangen, und inzwischen wird sie von einem zum anderen weiterempfohlen. Wegen Corona führt sie ihre Interviews allerdings nur noch telefonisch.
Was Wöhler erstaunt hat: Ihre Interviewpartner*innen haben in Deutschland kaum Diskriminierung erlebt. Mit den Einheimischen seien sie sich zum Beispiel über Schule oder Sportverein nähergekommen. "Wir haben auch mal deutsche Nachbarn zum Essen eingeladen", erzählte ihr eine Griechin. "Für uns war immer wichtig, dass wir uns nicht abschotten."
Richtig funktioniert das allerdings nur, wenn die Zugewanderten Deutsch lernten – da sind sich Interviewerin und Interviewte einig. Für die erste Gastarbeitergeneration habe es keine Sprachkurse gegeben. Für die zweite sei dann Bildung besonders wichtig gewesen. "Fast alle haben höhere Bildungsabschlüsse."
Wöhlers Lehre aus ihren Forschungsprojekten: "Integration geht über mehrere Generationen." Und: "Ohne Offenheit von beiden Seiten kann Integration nicht gelingen." Sie nennt das "beidäugiges Sehen". Auch die Einheimischen könnten davon profitieren: Ihr Leben werde vielfältiger.
Kraft der Geschichten
Und wovon lebt sie die ganze Zeit? Von eigenen Rücklagen und einem kleinen Beratungsjob nebenbei. "Ich bin sparsam, habe kein Auto"; daher reiche ihr das wenige Geld. Sogar ihr 23-jähriger Sohn finde ihr Engagement super, sagt Wöhler. Anfangs hatte sie schon etwas Angst. "Es ist ein bisschen verrückt, was ich hier mache. Aber es war mir immer wichtig, sich auch um andere zu kümmern und mich zivilgesellschaftlich zu engagieren."
Kraft schöpft sie aus Begegnungen wie jener mit einem 88-jährigen Griechen, der als Dolmetscher bei Olympia arbeitete. "Wir waren Tausende, aber wurden nie richtig wahrgenommen", erzählte er ihr mit Tränen in den Augen. "Endlich kommt mal jemand und schreibt unsere Geschichte auf." Solche Momente sind es, in denen Maike Wöhler tiefe Zufriedenheit spürt.
Maike Wöhlers erstes Buch
"Man ist nur so lange fremd, bis man sich kennt – Griechische Arbeitsmigration in Wiesbaden im 20. Jahrhundert" heißt das 92-seitige Werk, das die Bremer Kulturwissenschaftlerin und Arbeitsvermittlerin Maike Wöhler während einer unbezahlten Jobcenter-Auszeit verfasst hat. 2020 ist es im Verlag tredition erschienen. Zurzeit arbeitet Wöhler an einer Studie über griechische Migrant*innen in der einstigen Büromaschinenfabrik Olympia im friesischen Schortens. Arbeitstitel: "Vom Ankommen und Bleiben". (stg.)