Ausgabe 08/2020
Die Gallionsfiguren sind Frauen
Der wackelige Handyfilm zeigt einen kräftigen Mann beim Zuschlagen. Immer wieder rast der dünne Metallschlagstock auf eine am Boden liegende Frau nieder. Es ist ein früher Abend im November und schon dunkel in Warschau. "Polizei! Wo ist die Polizei?", schreien die Demonstrantinnen. Als eine andere Frau dem Mann mutig in den Arm fällt, bekommt auch sie einen kräftigen Hieb mit dem Metallstab ab. Am nächsten Tag muss ein Polizeisprecher zugeben, dass die brutalen Schläger Polizisten in Zivil waren. Angeblich, so kursiert es schon bald in oppositionellen Medien, soll der Parteivorsitzende der regierenden Nationalpopulisten und für Sicherheit zuständige Minister Jaroslaw Kaczynski angeordnet haben, die Polinnen bei ihren Protesten gegen das künftig fast totale Abtreibungsverbot härter anzufassen.
Die Bilder ähneln sich
Ortswechsel: Minsk, die Hauptstadt von Belarus. Die verwackelten Handy-Filme gleichen sich, doch sind die Hetzjagden der Sondertruppen des Innenministeriums (Omon) durch die Straßen der Stadt weitaus brutaler. Seit der mutmaßlich gefälschten Präsidentenwahl am 9. August dieses Jahres, bei der der seit 26 Jahren in Belarus herrschende Präsident Alexander Lukaschenko angeblich 80 Prozent der Wählerstimmen bekommen haben soll, protestieren empörte Bürger*innen. Sie lassen sich weder von Radpanzern, den olivgrünen Gefängniswagen, noch von Rauch-, Blend- und Knallgranaten abschrecken.
"Natürlich haben wir Angst", sagt eine Belarussin, die nicht mit Namen genannt werden will. "Nicht um uns selbst, aber um unsere Männer und Kinder." Alle Frauen in ihrer Familie gingen gegen das Regime auf die Straße. Sie selbst verließ vor gut zwei Monaten ihre Heimat, zusammen mit dem 17-jährigen Sohn, der Berufssoldat werden wollte, nun aber nach mehreren Tagen Folter im Gefängnis völlig traumatisiert ist. "Wir können nicht mehr zurück", sagt sie. "Wir werden in Polen ein neues Leben beginnen." Das Regime hat in den letzten drei Monaten rund 15.000 Menschen verhaftet, und dennoch wird weiter demonstriert – Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat.
So ähnlich die Frauenproteste in Belarus und Polen auf den ersten Blick wirken – hier wie dort heißt es euphorisch "Die Revolution ist eine Frau" – so unterschiedlich sind sie doch. Das beginnt damit, dass Polen eine zwar schwer lädierte Demokratie ist, ein Machtwechsel durch Wahlen aber immer noch möglich scheint, während Belarus es nach seiner Unabhängigkeitserklärung nie geschafft hat, sich von Moskau zu lösen. Es gab Ansätze zu Demokratie und Marktwirtschaft, doch viele Belarussen schreckten ob der gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ukraine davor zurück, auch im eigenen Land Reformen zu fordern. Polen schien ebenfalls kein Vorbild zu sein, da die Systemtransformation Massenarbeitslosigkeit und eine Verarmung breiter Bevölkerungsschichten mit sich brachte.
Während in Belarus die Menschen also über die Jahre immer wieder Lukaschenko und die soziale Sicherheit wählten, entwickelten die Polinnen und Polen in unzähligen Diskussionen und Demonstrationen das Gefühl, der Souverän zu sein und über ihr eigenes Schicksal im Staat mitbestimmen zu können.
Von Männerfüßen getreten
In Belarus sind es die allgemeinen Bürgerrechte, die Präsident Alexander Lukaschenko und seine Getreuen seit Jahrzehnten missachten. In Polen ist es insbesondere das seit der politischen Wende 1989 mit (Männer-)Füßen getretene Selbstbestimmungsrecht der Frauen. Während die Belarussinnen sich erstmals als Souverän mit einer eigenen Stimme definieren, fordern die Polinnen ihre Rechte zurück, die ihnen in den letzten 30 Jahren genommen wurden. So prangern sie ganz offen an, dass der hochgelobte "Kompromiss" von 1993 zwischen Gegnern und Befürwortern eines Abtreibungsrechts in Polen über die Köpfe der Frauen hinweggeschlossen wurde, von zumeist männlichen Ministern und Abgeordneten sowie katholischen Bischöfen.
Das schon damals überaus restriktive Gesetz sah einen Schwangerschaftsabbruch nur in drei Fällen vor: bei einer Vergewaltigung der Frau, bei einer Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren und bei "einer hohen Wahrscheinlichkeit einer schweren und irreversiblen Fehlbildung des Fötus oder bei einer unheilbaren, lebensbedrohlichen Krankheit". Nur im letzten Fall konnte die betroffene Frau selbst entscheiden, ob sie eine solche Schwangerschaft austragen wollte oder nicht. Im ersten Fall entschied bislang der Staatsanwalt, im zweiten ein Ärztegremium. Das Verfassungsgericht in Warschau entschied nun auf Antrag eines nationalpopulistischen Abgeordneten der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), dass diese letzte verbliebene Entscheidung einer Schwangeren verfassungswidrig sei.
Ähnlich bei den jeweils größten gesellschaftlichen Protesten seit 1989/1990 in Belarus und Polen ist wiederum, dass die Gallionsfiguren Frauen sind. In Belarus waren die meisten Herausforderer von Lukaschenko erst gar nicht registriert oder aber verhaftet worden, wie auch Sergej Tichanowskij. So trat seine Frau Swetlana Tichanowskaja als Kandidatin der gesamten Opposition an, da Lukaschenko sie einfach nur lächerlich fand und sie im Wahlkampf mit chauvinistischen Küchenwitzen niederzumachen versuchte.
Tausende Wahlhelfer und Beobachter aber sind überzeugt vom Wahlsieg der Anglistin, feiern sie auf Demonstrationen als "unsere Präsidentin" und fordern Lukaschenko zum Rücktritt auf. Inzwischen musste auch sie auf Druck des Regimes Belarus verlassen, lebt nun mit ihren Kindern im benachbarten Litauen und vertritt ihr Land als Beinahe-Präsidentin mit diplomatischem Geschick im Ausland.
In Polen ist die Juristin Marta Lempart das Gesicht des "Allpolnischen Frauenstreiks". Die heute 41-Jährige engagiert sich schon länger in der polnischen Frauenbewegung, setzt sich für die Rechte Behinderter ein und prangert offen die Vertuschung sexuellen Kindesmissbrauchs durch die Katholische Kirche an. Ähnlich wie Tichanowskaja in Belarus wird auch Lempart von regierungsnahen Medien in Polen schon mal als "Staatsfeindin" gebrandmarkt.
Keine Dialogbereitschaft
Ganz und gar unterschiedlich sind die Organisationsformen der Proteste. So will der "Koordinierungsrat" der Opposition in Belarus zwar eine Übergangsregierung nach dem Rücktritt Lukaschenkos stellen, ist aber ohne die neu entstehenden unabhängigen Gewerkschaften machtlos. Druck auf das Regime übten vor allem Arbeitsniederlegungen und Streiks der Beschäftigten in wichtigen staatlichen Schlüsselindustrien aus, so wie der landesweite Generalstreik am 13. August. Doch auch hier müssen Aktivisten mit Verhaftungen und Repressalien rechnen. Eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht.
In Polen wiederum hat die Stiftung Allpolnischer Frauenstreik einen "Konsultativrat" mit 13 Sektionen ins Leben gerufen. Zu Themen wie Bildung, Klima, Frauen, LGBT, Medien, Behinderungen und mehr sollen sich Expert*innen austauschen und Vorschläge erarbeiten, die gesellschaftlich diskutiert und dann der polnischen Regierung und dem Parlament als Forderungen oder auch Angebote zum Dialog vorgelegt werden sollen. Noch hat Polens Regierung keine Dialogbereitschaft signalisiert.
Die Proteste werden also andauern – in Polen wie in Belarus.
Belarus
"Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di steht für den Schutz von Menschenrechten und setzt sich für die Verteidigung demokratischer Werte ein. Uns bestürzt zutiefst, mit welcher Härte die belarussische Regierung gegen die friedlichen Proteste von Demonstrantinnen und Demonstranten vorgeht, die sich für demokratische Wahlen, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie Rechtsstaatlichkeit in der Republik Belarus einsetzen."
Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke in einem Brief an den belarussischen Botschafter in Deutschland
Polen
"Wir, die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in Deutschland, stehen solidarisch an eurer Seite im Kampf für die Selbstbestimmung der Frauen und gegen jede Verschärfung des Abtreibungsrechts in Polen. Euer Protest wird in Deutschland gehört und stößt bei uns auf uneingeschränkte Zustimmung!"
Aus der ver.di-Solidaritätserklärung