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Hilfen für die Kunst fordert auch der Clown hoch über dem Berliner AlexanderplatzFoto: Gerhard Westrich/laif

Jeden Januar findet auf Malta ein Barockmusik-Festival statt. Ohne Pandemie stünde Martin Ehrhardt jetzt dort auf der Bühne. Tatsächlich aber sitzt er in seinem Wohnzimmer und macht sich Sorgen. Seit vergangenem März wurden so gut wie alle Konzerte abgesagt – entschädigungslos. "Wir müssen die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Wenn man da was einklagen würde, wäre man für immer draußen", sagt der 55-jährige Geiger, der sich auf Alte Musik spezialisiert hat.

Normalerweise spielt er in mehreren renommierten Ensembles und Orchestern, wird von Laienchören fürs Weihnachtsoratorium oder die Johannespassion gebucht und unterrichtet außerdem noch an der Leverkusener Musikschule. Dort hat er ein indonesisches Gamelan-Orchester aufgebaut, das auch schon in der Berliner Philharmonie aufgetreten ist. Kurzum: Martin Ehrhardt hat es geschafft, mit seiner Leidenschaft ein solides wirtschaftliches Fundament aufzubauen.

So jedenfalls sah es bis vor einem Jahr aus. Seither muss er sich mit Sofort-, Überbrückungshilfe I und II, November-⁠, Dezember- sowie Neustarthilfe beschäftigen, um seine fünfköpfige Familie über Wasser zu halten. Immerhin hat Ehrhardt im August zusätzlich ein 7.000-Euro-Stipendium bekommen, das Nordrhein-Westfalen an 15.000 Künstler*innen für persönliche Arbeitsaufträge vergeben hat. Doch wie es längerfristig weitergeht, ist völlig unklar. Viele Konzerte und Festivals sind auch schon für dieses Jahr abgesagt. Die aus öffentlichen Kassen finanzierten Orchester werden so schnell keine freien Kollegen mehr dazu holen, so schätzt Ehrhardt die Lage ein – einerseits aufgrund coronabedingt drastisch reduzierter Besetzungsgrößen, andererseits um ihre Kosten gering zu halten.

Zu wenig Arbeitstage fürs Arbeitslosengeld

Genau das fürchtet auch die freie Opernchorsängerin Ursula Kraemer. Zuletzt sang sie am 12. März mit bei Othello in der Hamburger Staatsoper – und erfuhr kurz danach, dass die Norma-Aufführung zwei Tage später ausfallen würde. Weil professionelle Chorsängerinnen selbst bei Ein-Tages-Engagements immer fest angestellt werden, stehen ihnen jetzt die meisten Hilfen für Soloselbstständige nicht zu – und fürs Arbeitslosengeld reichte die Zahl der Arbeitstage bei Kraemer nicht aus.

"Zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben habe ich kein eigenes Geld und viel zu viel Zeit zum Grübeln", sagt Ursula Kraemer, die verheiratet ist und deshalb keinen Anspruch auf Hartz IV hat. Nur ganz knapp sei sie in den vergangenen Monaten an einer Depression vorbeigeschlittert.

„Das alles ist ein brutaler Einschnitt in unser Leben“
Martin Ehrhardt, Geiger

Viele Künstler*innen erleben gegenwärtig eine tiefe Krise. "Was wir machen, ist ja kein Job, sondern wir gehen unserer Berufung nach," sagt Ehrhardt. Das tägliche Üben mit Kolleg*innen, das gemeinsame Finden von Ausdrucksformen und Klangfarben, die Freude daran, anderen Menschen die indonesische Musik nahe zu bringen – all das hat bisher nicht nur seinen Alltag bestimmt. Es ist auch seine Identität. Manchmal zweifelt er, ob es je wieder so wird wie früher – und ob er seine drei Kinder überhaupt noch darin bestärken darf, selbst eine Karriere als Musiker*in einzuschlagen. "Das alles ist ein brutaler Einschnitt in unser Leben," bilanziert Ehrhardt, der sich seit drei Jahren bei ver.di für die Interessen seiner Berufsgruppe engagiert.

Keine Planungssicherheit

Das sieht auch der Jazzmusiker Bernd Suchland aus Berlin so. "Wenn der Einzelhandel wieder aufmacht, geht es dort sofort wieder los. Bei uns wird mindestens das kommende Jahr extrem schwierig." Normalerweise wäre er jetzt mit dem Booking für Konzertauftritte beschäftigt, die im Herbst oder noch später stattfinden. "Doch alle schweigen, keiner hat Planungssicherheit." Ein paar Musikschüler sind ihm geblieben, die er über Bildschirm aus seiner Übungskabine heraus unterrichtet.

Schmerzlich vermisst Suchland die Jam Sessions in den Jazzclubs, wo er sonst ein bis zweimal wöchentlich hingeht, sein Saxophon auspackt und spontan mit anderen spielt. Hier tauscht er sich aus, hier erfährt er, wo er sich mit seinen Bands bewerben kann. "Das ist ein ganzer Kosmos, der zurzeit einfach nicht da ist. Alles zu, alles weg."

Von Streaming-Konzerten hält Suchland nichts. "Die Musik muss sich frisch auf der Bühne entwickeln. Allein vor einer Kamera zu stehen, ist etwas völlig anderes als in einem gut besuchten Raum, wo die Luft kocht." Ob viele Spielorte je wieder öffnen werden? Ein Großteil der Jazz-Veranstalter ist schon recht alt, vielleicht machen sie jetzt Schluss, fürchtet Suchland.

Zwar gibt es für Soloselbstständige mehrere staatliche Hilfsprogramme. "Das Ganze ist aber wie ein Puzzle, viele fühlen sich stark verunsichert," sagt Veronika Mirschel, die in der ver.di-Bundesverwaltung für Soloselbstständige zuständig ist. Mal sind Menschen antragsberechtigt, die 80 Prozent ihrer Umsätze mit Unternehmen erzielen, die direkt von den staatlichen Schließungsmaßnahmen betroffen sind. Dann geht es darum, dass der Umsatzeinbruch mindestens 40 Prozent beträgt. Oder es werden Nachweise verlangt über Fix- oder Betriebskosten – obwohl viele Soloselbstständige die kaum haben. Einige Anträge dürfen nur durch Steuerberater gestellt werden, andere können von den Betroffenen selbst eingereicht werden – und nicht selten werden die Bedingungen ein paar Tage nach der Veröffentlichung noch einmal geändert.

"Grauenhaft", sagt der Fotograf Rolf Schulten, dessen Umsatz sich 2020 im Vergleich zum Vorjahr etwa halbiert hat. Messen, Veranstaltungen, Porträts – fast alles weggebrochen. Schulten hat die Antragstellung komplett an seine Steuerberaterin delegiert, auch wenn ihn das einen Teil der Hilfsgelder kostet. "Ich habe zwar gegenwärtig weniger Arbeit, aber deswegen ja nicht mehr Zeit", beschreibt er seine aktuelle Lage. Als Vater ist er gut damit beschäftigt, mit seinem fünfjährigen Sohn auf dem Spielplatz rumzutoben und ihn mit dem Bau von Pappraketen oder einer Camera obscura bei Laune zu halten.

Der Verlust der Krankenversicherung

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Martin Ehrhardt (li.) mit dem indonesischen Gamelan-Orchester beim Grenzgängerkonzert des Forums LeverkusenFoto: Susanne Diesner

Viele Soloselbstständige haben Angst, irgendwann mit Rückzahlungsforderungen konfrontiert zu werden. Oder sie fürchten, ihre Sozialversicherung zu verlieren – so wie die Schriftstellerin Franziska Hauser. Weil alle Lesungen abgesagt wurden, suchte sie sich ein neues Standbein als Deutschlehrerin und verdiente 600 Euro monatlich auf Honorarbasis. Das aber widerspricht den Regularien der Künstler-Sozial-Kasse (KSK), die allenfalls geringfügige Nebenjobs erlauben – und so steht Hauser jetzt erst einmal ohne Kranken- und Pflegeversicherung da.

Damit ist sie nicht allein: Trotz der seit 2009 geltenden Versicherungspflicht gab es in Deutschland bereits vor Corona fast 150.000 Menschen ohne Krankenkassenschutz – und mit der Pandemie dürften die Zahlen vor allem unter den Soloselbstständigen deutlich nach oben gegangen sein. Allein bei der KSK waren über 15.000 Versicherte mit ihren Zahlungen so weit im Rückstand, dass der Gerichtsvollzieher benachrichtigt wurde. Über 9.000 dort Versicherte haben inzwischen Grundsicherung beantragt. ver.di fordert stattdessen, Soloselbstständige mit Kurzarbeiter*innen gleichzustellen und ihnen 75 Prozent ihres Gewinnausfalls zu ersetzen.

Auch dem Künstler Kolja Kugler, der riesige, hochbewegliche Roboter aus Schrott baut, blieb im Sommer nichts anderes mehr übrig, als Hartz IV zu beantragen. "Ich war immer stolz darauf, dass ich in all den Jahren nie darauf angewiesen war", sagt der 45-Jährige. Noch Anfang 2020 sah es nach einem sehr guten Jahr für ihn aus: Internationale Auftritte seiner dreiköpfigen Heavy Metal Band in Rom, Zagreb und Rijeka waren gebucht, dazwischen sollte das Maschinen-Ensemble viele Neugierige in die Berliner "Wild Waste Gallery" locken. Zwar bekam Kugler inzwischen ein Künstler-Stipendium und hofft auf November-⁠, Dezember- und Neustarthilfe. Doch wann es wieder richtig losgeht, ist auch für ihn völlig unklar.

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