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Fotos:Disney, Merritt Johnson

Nomadland

Eine Frau verliert den Mann, den Job und zuletzt ihre ganze Stadt. Empire in Nevada ist 2011 nach Schließung der Mine zur Geisterstadt ohne Postleitzahl geworden. Also macht sich die 61-Jährige auf den Weg. Der führt sie durch die Prärie und die Trauer, von einem Aushilfsjob zum nächsten und schließlich zu sich selbst. Das jüngst mit zwei Golden Globes gekrönte Road Movie von Chloé Zhao ist ein melancholisches Werk, ein moderner Western. Getragen wird es von zuweilen halbdokumentarischen Szenen vor dramatischen Landschaftspanoramen, die die Schauspielerin Frances McDormand als Fern, so ihr Filmname, durchschreitet und in ihrem weißen Transporter regelrecht erfährt. Ihn hat sie zu ihrem neuen Zuhause umgebaut.

Der Film beruht auf Jessica Bruders Recherche "Überleben im Amerika des 21. Jahrhunderts". Sie zeigt darin eine bis dahin ungesehene Kultur unter älteren Amerikaner*innen, deren Rente nicht reicht. Seit der Finanzkrise 2008 leben sie in Autos und Wohnmobilen, ziehen wie einst Steinbecks Familie Toad von einem Saisonjob zum nächsten, den Kummer stets auf der Rückbank. Unter ihnen hat sich eine Community herausgebildet, deren Wege sich regelmäßig trennen und wieder treffen. Die sich stützt und mit Freundlichkeit und Gemeinschaft aushilft. Ersatzfamilien on the road, das Leben eine Folge von Abschieden – man sieht sich. Betroffen ist eine Generation, die sich ihren Ruhestand ganz anders vorgestellt hatte. Aus ihrem Traum vom Lebensabend in Wohnmobil und National Parks ist der Zwang zum Leben als Wanderarbeiter geworden.

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Regisseurin Zhaos Team hat einige der Protagonisten dieser Community getroffen, sie als Darsteller*innen in den Film eingebunden und bewegende Dialogszenen voller Poesie eingefangen. Frances McDormand, als Fern auf der Höhe ihres schauspielerischen Einfühlungsvermögens, hat müde und kurz geschoren einige der Jobs selbst getätigt; körperlich harte Arbeiten in der Rübenernte, bei Amazon oder im Burgerladen. Angebote, bei Freunden zu bleiben, schlägt sie aus; Fern scheint zunehmend mit der Natur zu verschmelzen. Lieber setzt sie ihren Weg in ihrem klapprigen Wagen fort, den sie Vanguard nennt, die Vorhut, ihren Beschützer. Aus dem heraus betrachtet sie beim Fahren das Naturspektakel und den industriellen Rückbau des Landes, während sich dem Zuschauer dabei ihre inneren Landschaften zu offenbaren scheinen. Beides zusammen ist einfach ganz großes Kino. Jenny Mansch

USA 2021. Regie: Chloé Zhao. D: Frances McDormand, Swankie, Linda May, Bob Wells, David Strathairn. L: 110 Min., Kinostart 8.4.2021

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Bonusfamilie

Ihnen fehlt die physische Anwesenheit der buckligen Verwandtschaft? Bis man sich mit Onkeln, Tanten, Oma, Opa und der reichen Kinderschar wieder treffen darf, kann man sich auch mit einer Ersatzfamilie umgeben. Bonusfamilie – im Original Bonusfamiljen – ist eine schwedische Dramedy, die der Streamingdienst Netflix nicht automatisch vorschlägt, man muss den Titel in die Suchmaske eingeben. Dann aber kann man sich in die vergnügliche Geschichte eines Paares um die Dreißig einwickeln, das gerade in ein Haus nahe Stockholm gezogen ist und nun im Wechsel die jeweiligen Kinder aus der letzten Beziehung am Hals hat. Die verarbeiten die Trennung der Eltern unterschiedlich, als Pubertier, als Streber und als Wüterich. Dann kündigt sich obendrein ein neues Baby an, der Exfreund von Lisa vergreift sich im Ton, verliert den Job und muss zurück zu Mama ziehen, was seine nächste Beziehung nicht gerade einfacher macht. Alle wollen weder mit noch können sie ohne einander, und so landen sie schließlich bei dem gleichen Paartherapeuten-Paar, das selbst eine reichlich schräge Ehe führt. Als Zuschauer ist man gleichsam mittendrin, aber auch fein raus, wenn sich das Patchwork schlägt und verträgt. Jenny Mansch

SDN 2017, Netflix, 3 Staffeln

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Wer wir waren

Der Titel dieser Doku beruht auf Roger Willemsens "Zukunftsrede", in der der Schriftsteller einen Blick auf unsere Gegenwart wirft – aus der Zukunft heraus. Seine melancholische, posthum veröffentlichte Abrechnung mit den Versäumnissen unserer Generation spricht zu uns als diejenigen, die sehenden Auges und voller Informationen auf die Katastrophe zusteuern – "so gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten". Dokumentarfilmer Marc Bauder hat sechs renommierte Expert*innen über dieses Paradoxon nachsinnen lassen; seine Kamera fängt dazu Bilder ein, die die Schönheit dessen beschwören, was auf dem Spiel steht. Sie folgt den Gedanken der Wissenschaftler in die Tiefe und in Höhen, zu Orten der Zukunft und der unwiederbringlichen Vergangenheit. So staunt die Ozeanologin, dass wir zum Mond fliegen, ohne unsere Meere genau zu kennen; bedauert der Ökonom, die 30 Jahre Neoliberalismus nicht früher als zerstörerisch bekämpft zu haben; will der afrikanische Philosoph das "Kapitalözen" und die Finanzakteure mit dem kollektiven "Wir" überwinden, in dem die Technikphilosophin keine Hierarchien zwischen Mensch, Tier und Androiden mehr sieht, und wo der Mönch/Molekularbiologe ermutigt zu handeln - wider unser irres Treiben, das aus der Distanz einer Raumstation besonders bizarr anmutet. Jenny Mansch

D 2020. R: MArc Bauder. D: S. Earle, A. Gerst, D. Snower, M. Ricard, F. Sarr, J. Loh. L. 153 Min., Kinostart 6.5.21