Ausgabe 02/2021
Vom Internet auf die Straße
Im Silicon Valley, wo Gewerkschaften lange als überflüssig galten, weht ein neuer Wind. Im Augenblick trifft er einen der mächtigsten High-Tech-Konzerne der Welt – Alphabet.Inc, zu dem auch Google gehört. Eine Gruppe von Software-Ingenieuren des Konzerns hat im Januar die "Alphabet Workers Union", AWU, aus der Taufe gehoben. Schon drei Tage später hatte die neue Organisation einen ersten nationalen Auftritt. Am Tag nach dem Sturm von gewalttätigen Trump-Anhängern auf das US-Kapitol verlangte sie, dass dem damaligen Präsidenten jeglicher Zugang zu YouTube versperrt wird, weil er das Videoportal zur Verbreitung von Hass und Lügen missbrauche. Der Alphabet-Konzern hat lediglich ein vorübergehendes Verbot verfügt, das nur so lange in Kraft bleiben soll, bis die Gefahr von Gewalt gebannt ist.
Außer Kontrolle
Schon die erste Stellungnahme der neuen Gewerkschaft macht klar, wohin ihre Ambitionen gehen. Sie will bei strategischen Entscheidungen mitreden. Nicht nur, wenn es um die weltweit 135.000 Beschäftigten von Alphabet und die noch größere Zahl von Zeitbeschäftigten geht, die zu geringeren Löhnen und Sozialleistungen arbeiten, sondern auch bei politischen Fragen.
Die Gewerkschaftsgründer*innen wehren sich dagegen, dass ihre Arbeitskraft ohne ihre Zustimmung für das Pentagon, die Polizei und den Grenzschutz sowie für autoritäre Regime genutzt wird. "Wir brauchen", begründete Software-Ingenieurin Dana Fried in der Selbstdarstellung der AWU, "ein Gegengewicht zu den Aktionären und Führungskräften, die weitgehend von der Bilanz getrieben sind". Sie und ihre Mitstreiter*innen erinnern an das ursprüngliche Motto von Google – "Don't be evil" (Sei nicht böse) – das seit der Restruk- turierung unter dem Dach von Alphabet im Jahr 2015 über Bord gegangen ist.
"Wir brauchen ein Gegengewicht zu den Aktionären und Führungskräften, die weitgehend von der Bilanz getrieben sind"
Software-Ingenieurin Dana Fried, Google
Auch das Logo der neuen Gewerkschaft geht zurück zu den Anfängen von Google in einer Garage in den 1990er Jahren: Es zeigt eine geballte Faust, die eine Lupe hält – das Zeichen der Suchmaschine.
"Ich werde gut bezahlt und muss keine gesundheitlichen Gefahren befürchten", sagt Andrew Gainer-Dewar, der Sprecher der neuen Gewerkschaft. Ihn treibt vor allem die Sorge um, "dass unsere Arbeit außer Kontrolle gerät". Der 35-jährige Mathematiker hat an einer Universität gelehrt, bevor er vor vier Jahren als Software-Ingenieur bei Google in Cambridge, bei Boston, einstieg. Er gehört zu den Fachleuten, die problemlos einen neuen Job bei der Konkurrenz finden können. Es sei denn, fügt er hinzu, "ich werde wegen gewerkschaftlicher Aktivitäten gefeuert."
Im zurückliegenden Jahr haben Gainer-Dewar und andere Gründer*innen vertrauliche Gespräche geführt, um herauszufinden, wie groß die Unterstützung für eine Gewerkschaft ist. Sie mussten es unter den doppelt verschärften Bedingungen der Pandemie und vor allem der Einschüchterungsversuche des Alphabet-Managements tun. Union Busting, die massive Behinderung von Gewerkschaften, ist "Made in USA".
Risse in der Fassade des coolen und entspannten Konzerns gab es schon lange. Als 2018 herauskam, dass das Alphabet-Management einen Ingenieur, dem mehrere Frauen sexuelle Belästigung vorgeworfen hatten, mit einem Scheck von 90 Millionen Dollar herauskomplimentiert hat, eskalierte das Unwohlsein. Bei der größten Protestaktion in einem Tech-Konzern gingen weltweit 20.000 Googler auf die Straße.
Wenig später wurde bekannt, dass Alphabet an zwei Forschungsprojekten arbeitete, die so geheim waren, dass selbst die beteiligten Ingenieure nicht informiert waren. "Dragonfly" sollte eine Suchmaschine mit eingebauten Zensur- und Kontrollmöglichkeiten für die chinesische Regierung in Beijing werden, "Project Maven", sollte dem Pentagon helfen, mit künstlicher Intelligenz Menschen mit Drohnen zu verfolgen. Petitionen und Proteste von Googlern brachten beide Projekte zu Fall. Allerdings: Ende 2019 feuerte Alphabet fünf Beschäftigte, die die Proteste organisiert hatten.
Kein Einzelfall
lphabet ist kein Einzelfall. Auch in anderen Tech-Konzernen ist aktuell eine Gründerstimmung angebrochen, die an die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts erinnert, als die Autoarbeiter begannen, ihre später mächtige Gewerkschaft "United Auto Workers", UAW, zu gründen. Damals wie heute – auch das eine Gemeinsamkeit – sitzen Männer im Weißen Haus, die die Gewerkschaftsbewegung zumindest mit Worten unterstützen.
Bei den Tech-Konzernen stimmte bereits im vergangenen Jahr die Belegschaft des Crowdfunder "Kickstarter" für die Gründung einer Gewerkschaft. Es war das erste Mal in einem Tech-Unternehmen in den USA. In diesem Monat März stimmt die fast 6.000-köpfige Belegschaft einer Amazon-Anlage in Alabama über eine Gewerkschaft ab. Der Konzern hat sogar die Toiletten im Betrieb mit Propaganda gefüllt, Stickern und Plakaten, die vor den negativen Folgen von Gewerkschaften warnen. Gleichzeitig ermuntert aus Washington der seit Ende Januar amtierende Präsident Joe Biden die Beschäftigten dazu, die Gewerkschaft zu wählen. "Gewerkschaften sind von vitaler Bedeutung", sagte Biden in einem Video, in dem er gewerkschaftsfreundlicher klingt als jeder vorausgegangene US-Präsident.
Gewerkschaft für die Minderheit
Was Alphabet anders macht, ist, dass die neu gegründete Gewerkschaft vorerst keine Abstimmung der Belegschaft plant. Die AWU ist unter dem Dach der alteingeführten Communications Workers of America, CWA, der größten Mediengewerkschaft des Landes, angetreten. Bisher hat es die AWU auf 800 zahlende Mitglieder gebracht. Von der Mitgliedschaft von mehr als der Hälfte der Belegschaft, die nach amerikanischen Recht nötig ist, um eine Anerkennung als Verhandlungspartnerin der Konzernführung zu bekommen, ist sie damit noch weit entfernt. Andrew Gainer-Dewar sieht die Zukunft der AWU derzeit als "Minderheitengewerkschaft". Als solche kann sie Petitionen und Öffentlich-keitsarbeit und politischen Druck machen, aber keine Tarifverhandlungen führen. Alphabet selbst schweigt zu der Gewerkschaftsneugründung.
"Gewerkschaften sind von vitaler Bedeutung"
US-Präsident Joe Biden
Im Februar hat die AWU eine Beschwerde beim National Labor Relation Board, der nationalen Arbeitsbehörde, eingereicht. Shannon Wait, eine Beschäftigte bei dem Datenzentrum des Alphabet-Subunternehmers Adecco in South Carolina, war suspendiert worden, nachdem sie die Arbeitsbedingungen von Leiharbeiter*innen dokumentiert und Gespräche über Löhne geführt hatte. Sie verstand ihre Abberufung vom Dienst als Vergeltung. Wenige Tage nachdem ihr Fall auf dem Tisch der nationalen Arbeitsbehörde landete, wurde ihre Suspendierung aufgehoben. Auch eine Minderheitengewerkschaft ist nicht machtlos.