Ausgabe 04/2021
Chiles Weg in die Demokratie
"Jetzt ist die Zeit der neuen Generationen gekommen", sagt Juan Carlos Aede. Der 65-Jährige, ein ehemaliger Aktivist der Wohnungslosen, geht bester Laune durch die Straßen seines Viertels, der Villa Portales, im ärmeren Westen von Santiago, wo er jetzt eine Wohnung hat. Die Villa ist ein Relikt aus dem sozialstaatlichen Modell der 60er-Jahre in Chile. Vier- und fünfstöckige Blocks mit markanten Treppenhäusern, Brücken und Fensterbalken ziehen sich durch eine riesige Parkfläche, die heute zum Teil brach liegt.
Am 11. September 1973 beendet das Militär mit einem brutalen Putsch den sozialstaatlichen Traum der 60er und 70er-Jahre. Mit eiserner Hand führen wirtschaftsliberale Intellektuelle mit den Generälen ein neoliberales Wirtschaftssystem in Chile ein. Als Grundlage wird im Jahr 1980 eine neue Verfassung verabschiedet, die die Familie, den Markt und das Privateigentum über soziale Grundrechte, Gleichberechtigung oder Umweltschutz setzt.
Am vergangenen 15. und 16. Mai haben die Chilenen und Chileninnen an der Urne das neoliberale Fundament beerdigt und die Mitglieder einer neuen verfassungsgebenden Versammlung gewählt. Gewonnen haben linke Kräfte und Aktive sozialer Bewegungen. Die Umweltaktivistin Carolina Vilches aus dem Gebiet der Avocadoplantagen im Norden von Santiago ist eine von ihnen. Sie sagt: "Heute haben wir die Möglichkeit, die Geschichte eines neuen Chiles zu schreiben, eines demokratischen, sozialen, ökologischen, plurinationalen und feministischen." Wie stolz und glücklich sie das macht, ist der 36-Jährigen anzusehen.
Die wiedergewonnenen Träume
Chile, der kleine Staat mit gerade einmal 19 Millionen Einwohnenden, aber mit einer Fläche mehr als doppelt so groß wie Deutschland, hat in den letzten 50 Jahren viel Wandel erlebt. Anfang der 70er Jahre träumt ein großer Teil der Bevölkerung mit ihrem Präsidenten Salvador Allende vom demokratischen Weg in den Sozialismus, drei Jahre später putschen die Generäle und führen über 17 Jahre ein Terrorregime. 1990 kehrt Chile zurück zur Demokratie, doch der Traum von mehr sozialer Gerechtigkeit ist zu diesem Zeitpunkt in weiter Ferne, erst heute beginnt die Bevölkerung wieder zu träumen.
Juan Carlos Aede hat all das miterlebt. Er wächst in einem Kinderheim auf, "mein Alltag war geprägt von Armut und Schlägen", erzählt der vom Leben gezeichnete Mann. Tiefe Falten ziehen sich über sein Gesicht und seinen Hals. Das Heim, in dem er als Kind lebt, wird von der Polizei geleitet, am Morgen gibt es Stockschläge zum Aufstehen, über den Tag spielen sie Fußball oder langweilen sich. Schulbildung ist für die Straßenkinder nicht vorgesehen: "Ich war einer der wenigen, der Lesen und Schreiben konnte". Und die Regierung Allende begeistert ihn. Lebhaft erinnert er sich: "Einmal war ich bei einer Rede Allendes in der ersten Reihe, Chile hatte Großes vor."
Selbst im Heim organisieren sich die Jugendlichen und beginnen, gegen die Missstände anzugehen. Der Militär-Putsch zieht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Es folgt die Diktatur. Panzer fahren auf, Tausende von Menschen werden weggesperrt, müssen fliehen, werden gefoltert oder ermordet. In Aedes Kinderheim kommt ein Offizier und veranlasst, dass alle politisch Organisierten umgehend das Heim zu verlassen haben. "Ich wurde aus einem Polizeistaat entlassen und musste in einer Militärdiktatur auf der Straße leben", sagt Aede.
Ein riesiger Tresor voller Geld
Die Diktatur ist geprägt von großer Armut in der Bevölkerung. Der Staat kümmert sich nicht mehr um die Armen, überall entstehen Suppenküchen, es gibt kaum noch sozialen Wohnungsbau und aufgrund der marktliberalen Reformen müssen viele Fabriken schließen.
Ein Kernelement der Diktatur ist die Gründung eines neuen Rentensystems. Bis ins Jahr 1980 hatten alle Berufszweige eine eigene Rentenkasse. Mit dem Ersparten wurden Wohnungen gebaut, zum Teil eine Krankenversorgung finanziert und Renten ausgezahlt. Die eindrucksvollen Bauten der Villa Portales, Aedes Viertel, wurden von der Rentenkasse erbaut bei der unter anderem die Angestellten des staatlichen Telekommunikationsanbieters waren.Die Kasse kümmerte sich um die Instandhaltung der Grünanlagen und der Gebäude, entlang denen Aede jetzt läuft.
Doch die Diktatur bereitet dem ein Ende, privatisiert den Rentensektor und überlässt ihn großen Versicherungskonzernen. Die Arbeitenden zahlen nun dort einen Teil ihres Lohns ein, das Ersparte wird jetzt nicht mehr für das Wohl der Einzahlenden, sondern der chilenischen Unternehmen genutzt. Die finanzklamme Militärdiktatur erstiehlt sich so einen riesigen Tresor, mit dem sie das chilenische Wirtschaftswunder der folgenden Jahrzehnte finanziert. Der höchste Turm Südamerikas, das Costanera Center, wird nur aus Geldern aus den Rentenkassen erbaut. Doch für bessere Pensionen oder eine Überwindung der Armut sorgt das neue System nicht. Noch im Jahr 2018 erhielten laut offiziellen Angaben über 84 Prozent der Pensionierten Auszahlungen unterhalb der Armutsgrenze.
Während der Diktatur grassiert die Armut geradezu. Aede, der mit 17 Jahren auf der Straße landet, wird in Komitees Wohnungsloser aktiv. Er kämpft gegen die Militärdiktatur und für ein Leben in Würde. Neben ihm sterben Genossen, werden vom Militär und der Polizei angeschossen, ermordet. Er selbst wird gefoltert, als Spätfolge verliert er heute schrittweise sein Augenlicht.
Im Jahr 1989, nach Jahren der Proteste, wählt die Bevölkerung den Diktator Augusto Pinochet ab. Ein Jahr später übernimmt der Christdemokrat Patricio Aylwin mit einer links-reformistischen Regierung die Präsidentschaft. Aede ist damals Sprecher der wichtigsten Organisation aus Wohnungslosen und Mitglied der mitregierenden Sozialistischen Partei. Das Ende des Terrors und der Sieg der links-reformistischen Kräfte – für ihn ist es, als würde ein Traum endlich wahr werden.
"Ich wurde aus einem Polizeistaat entlassen und musste in einer Militärdiktatur auf der Straße leben."
Juan Carlos Aede, ehemaliger Aktivist der Wohnungslosen-Bewegung
Doch anstatt die Forderungen der Bewegungen in die Politik aufzunehmen, werden die Armen fallengelassen. Aede hält kurz inne und erinnert sich an eine Sitzung mit der Regierung: "Man versammelte uns und teilte uns mit, dass unsere Organisation nicht mehr von Nöten sei." Noch heute merkt man dem Aktivisten seinen Frust darüber an. "Wir wurden demobilisiert, unsere Träume verraten."
Sie nehmen es fast widerstandslos hin. Nach Jahren des Kampfes sind sie zu erschöpft, um weiterzumachen. In den folgenden 30 Jahren regiert vor allem das links-reformistische Bündnis "Concertación Por la Democracia" und vertieft das neoliberale System sogar. Alles, was vorher nicht privatisiert wurde, ist nun dran, von der lokalen Wasserversorgung bis zum staatlichen Telekommunikationsanbieter. Die Villa Portales verfällt unterdes weiter. Die Grünflächen vertrocknen, die Häuser verlieren ihren Putz, Wasserleitungen brechen und zwischen den Blocks macht sich Bandenkriminalität bemerkbar. Es wird nur das Nötigste getan, um die Häuser instandzuhalten.
Die Hoffnung zurückerobern
Carolina Vilches steht in der Nähe ihres Hauses, vier Stunden im Norden entfernt von Santiago. Das Land um sie herum ist karg, am Horizont sind die Voranden zu sehen, auf denen noch vor Jahren Hirten ihre Tiere weiden ließen, im nassen Winter wurde Getreide angebaut. Heute ist alles trocken. Die gewählte Vertreterin für die verfassungsgebende Versammlung, war zu jung, um die Gewalt der Diktatur am eigenen Leib zu spüren. Sie wächst in den 90er Jahren in einer Holzhütte ohne fließend Wasser und auf einem besetzten Grundstück auf. "Ich habe am eigenen Leib erlebt, was Armut bedeutet."
Nach der Diktatur folgt ein unerwartet starker Wirtschaftsaufschwung. Allerdings auf Basis einer enormen Verschuldung der Bevölkerung und einer krassen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Vilches selbst kann nur mit Krediten studieren und erlebt, wie sich an den Hängen um ihr Dorf herum Avocadoplantagen ausbreiten und die umliegenden Flüsse austrocknen.
Genau dagegen wehren sich die Menschen, als sie im Oktober 2019 in Massen auf die Straße gehen und das Land lahmlegen. Trotz massiven Aufgebots der Polizei und des Militärs, hunderten von Verletzten und einer Kriegserklärung durch Sebastían Piñera – dem ersten rechten Präsidenten seit der Rückkehr zur Demokratie – gehen die Proteste weiter. Als Eingeständnis gegenüber der Bewegung wird am 15. November 2019 die Ausarbeitung einer neuen Verfassung angekündigt. Aufgrund der Pandemie müssen die Wahlen immer wieder verschoben werden.
Vilches gehört der Umweltorganisation MODATIMA an, die gegen die Privatisierung von Wasser und Umweltverschmutzung durch die Industrie kämpft. Als die Wahlen zur neuen verfassungsgebenden Versammlung angekündigt werden, entscheiden sie sich teilzunehmen. "Über Jahre haben wir Proteste organisiert, nahmen an Parlamentskommissionen teil, aber nichts hat sich geändert. Jetzt ist es Zeit, dass wir selbst die Gesetze machen, und sich das Volk der Politik ermächtigt."
Keinen freien Tag mehr
Trotz breiter Unterstützung für den Wahlkampf überrascht auch Vilches das Ergebnis. "Als die ersten Zahlen kamen, konnte ich es kaum glauben", sagt Vilches. Sie wird mit 19.116 Stimmen die meistgewählte Kandidatin in ihrem Wahlkreis. Im ganzen Land werden Feministinnen, Indigene und Aktivisten in die Versammlung gewählt. Die rechten Parteien gewinnen weniger als ein Drittel der Stimmen, das ehemalige Mitte-Links Bündnis wird abgestraft und landet auf Platz Vier. Nun haben diejenigen die entscheidende Macht, die über Jahre hinweg scheinbar erfolglos gekämpft haben. Seit den Wahlen hat Vilches keinen freien Tag mehr. "Täglich bekomme ich Anrufe, werde zu Sitzungen eingeladen und treffe mich mit Organisationen aus meinem Distrikt." Zum Teil findet all das online statt.
"Wir wollen den verfassungsgebenden Prozess in die Gemeinden tragen", sagt sie. Überall im Wahlbezirk haben sich lokale Versammlungen gegründet, die in direkter Verbindung zu Vilches über die einzelnen Artikel der neuen Verfassung diskutieren wollen.
Dabei verliert die neue Abgeordnete mit ihrem asymmetrischen Haarschnitt nicht die aktuellen Probleme aus dem Blick. Am Tag des Interviews bereitet sie sich auf eine Sitzung mit dem Lehrerpersonal einer benachbarten Gemeinde vor, die ihre Sozialleistungen nicht bezahlt bekommen haben. Sie sagt, "wir müssen in ständiger Verbindung mit jenen sein, die ihre Löhne nicht bezahlt bekommen, deren Umwelt zerstört und Gesundheit angegriffen wird". Vilches erlebt eine enorme Energie und Begeisterung. "Die Menschen haben Lust, das neue Chile mitzugestalten, sie wollen Teil der Politik sein und lassen sich nicht mehr bevormunden. Wir haben die Hoffnung zurückgewonnen."
Aufbruch in ein neues Chile
Auch in der Villa Portales ist Hoffnung zurückgekehrt. Juan Carlos Aede streift noch immer durch sein Viertel. Er zeigt auf einen Garten, dort wachsen Kräuter und Gemüse. Kleine Bäume sind gepflanzt und strecken sich gen Himmel. Aede sagt: "Seit Beginn der Revolte vom Oktober 2019 hat die Jugend diese brachliegende Fläche übernommen und einen Gemeinschaftsgarten gegründet. Alle können hierherkommen, mithelfen oder einfach etwas mit nach Hause nehmen."
Überall in dem riesigen Stadtviertel sind solche Initiativen zu sehen. Es gibt kleine Gratisläden für Klamotten, riesige Graffitis mit politischen Sprüchen und regelmäßige Viertelversammlungen. All das stimmt auch Aede hoffnungsvoll. "Die Jugend musste die Schrecken der Diktatur nicht miterleben, hat nicht das Gefühl, ewig dankbar für die zurückerlangte Demokratie sein zu müssen, und ist sich der Probleme des Neoliberalismus bewusst."
"Jetzt ist es Zeit, dass wir selbst die Gesetze machen, und sich das Volk der Politik ermächtigt."
Carolina Vilches, Umweltaktivistin und Abgeordnete der neuen verfassungsgebenden Versammlung
Anfang Juli wird die verfassungsgebende Versammlung zum ersten Mal tagen. Der Versammlungsort ist der ehemalige Kongress im Zentrum von Santiago. Pinochet ließ das Parlament als eine seiner letzten Handlungen in die Hafenstadt Valparaíso verschieben, weitab von den Protesten der Hauptstadt. Auch das Gebäude ist ein Symbol der Rückgewinnung von Demokratie. In ihm wird viel Hoffnung in ein neues Chile fließen, aber auch der Frust über mögliche Fehlschritte.
Neben dem imposanten Kongressgebäude liegt ein Parkplatz, der von den Abgeordneten genutzt wird, die ihre Büros in der Nähe haben, um nicht immer nach Valparaíso fahren zu müssen. Die Parkplatz-Wächterin Yvonne Soto begrüßt die neue Verfassung: "Es geht um einen besseren Lohn, bessere Bildung und mehr Gesundheit. Die Armen sollen endlich mehr abbekommen." Das Ziel vieler Chilenen und Chileninnen auf ein besseres Leben scheint einen Schritt näher.
Die Umweltaktivistin Vilches will die Aufbruchsstimmung nicht bremsen, sagt aber: "Wir sind am Anfang eines langen Weges, um soziale Grundrechte wie Wasser, Umweltschutz, Gesundheitsversorgung oder Bildung in der Verfassung festzuschreiben." Jetzt muss die Bevölkerung die neue Verfassung erst einmal in einem abschließenden Referendum annehmen. Wie dann die Gesetze umgesetzt werden, wird sich in der kommenden Regierung zeigen.
Im November werden die Präsidentschaftswahlen stattfinden. Der Kommunist Daniel Jadue und derzeitige Bürgermeister der Gemeinde Recoleta, im Norden von Santiago gelegen, gilt als einer der Hauptfavoriten für das Präsidentenamt, um zusammen mit einer großen linken Koalition die nächste Regierung zu stellen.
In Recoleta steht die erste Sozialsiedlung seit dem Militärputsch, deren Wohnungen nach Fertigstellung nicht nur vergeben, sondern vom Staat auch verwaltet werden. Es sind nur zwei kleine Türme mit fünf Stockwerken, vor einem Jahr eröffnet, die aufgrund der grellgelben Fassade über die herumliegenden erdgeschossigen Häuser von weitem zu sehen sind. Jeder Turm ein Prototyp, der eine mögliche Zukunft des Landes darstellt: ein starker demokratischer Staat auf festen Säulen, der der Bevölkerung soziale Grundrechte garantiert.