Ausgabe 04/2021
Kribbeln im Bauch
Frühling in Paris
Suzanne ist eine Einzelgängerin, intelligent, introvertiert und ein bisschen schüchtern. Die Schule unterfordert sie, mit ihren Freundinnen langweilt sie sich. Aber es gibt jemanden, der ihre Aufmerksamkeit weckt: der Schauspieler Raphaël, der oft seine Probenpausen vor dem Theater verbringt. Sie ist 16, er 35, aber trotz des Altersunterschieds kommen sie ins Gespräch, verbringen Zeit miteinander und verlieben sich. Der viel beachtete Debütfilm zeigt alle Schattierungen dieser scheuen Romanze, vom ersten Kribbeln im Bauch bis zur Ernüchterung, als die Heldin Zweifel überkommen, sich an einen Erwachsenen zu binden. Die 20-jährige Regisseurin und Hauptdarstellerin Lindon, Tochter der französischen Kinostars Sandrine Kiberlain und Vincent Lindon, legt in ihrer leisen, subtilen Erzählung, die ohne Sexszenen und große Worte auskommt, große Reife an den Tag. In einer der schönsten Szenen improvisieren die Liebenden eine Choreographie zu einer Arie aus Vivaldis "Stabat Mater". Solche Anflüge von Poesie, Eleganz und ungezwungener Leichtigkeit machen aus einer kleinen Studie großes Kino.
Kirsten Liese
F 2020. Regie: Suzanne Lindon. D: Suzanne Lindon, Arnaud Valois, Frédéric Pierrot. 74 Min. Start: 17.6.21
Der Rausch
Um angehende Alkoholiker ranken sich zahlreiche Sozialdramen. Aber wiewohl auch seine Protagonisten unter angespannten Familienverhältnissen und Frust im Beruf leiden, wählt der Däne Vinterberg für sein preisgekröntes neues Werk einen deutlich heiteren Ton. Als wissenschaftliches Experiment deklarieren sein Protagonist, ein Geschichtslehrer und drei seiner Kollegen ihr absurdes Vorhaben, das von dem norwegischen Psychologen Skárderud behauptete "natürliche Alkoholdefizit" überprüfen zu wollen. Unter der Maßgabe, ihre "Fortschritte" zu protokollieren, lassen sich die Freunde volllaufen. Der Rausch scheint anfänglich ihre pennälerhafte Unreife tatsächlich zu belohnen. Jedenfalls verspürt der Mittfünfziger Martin neuen Schwung, sodass er seine Klasse wieder begeistern und zu besseren Leistungen führen kann. Bei steigenden Promille wird der Kontrollverlust jedoch stetig unerträglicher. Inmitten von zusehends unschärferen Bildern, die das instabile Klima untermauern, verliert sich das Zeitgefühl in dieser provokanten, amüsanten schwarzen Komödie, die ohne einen pädagogischen Zeigefinger auskommt.
Kirsten Liese
Dänemark 2020. Regie: Thomas Vinterberg. D: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Lars Ranthe. 117 Min. Start: 22.7.21 2021