Ausgabe 04/2021
Musik
Joe Barbieri: Tratto Da Una Storia Vera
In seinem Heimatland ist der Neapolitaner Joe Barbieri längst kein Unbekannter mehr. In Deutschland hingegen muss der Cantautore (Singer/Songwriter) noch entdeckt werden, was sich auf jeden Fall lohnt. Denn Barbieri bietet großes Kino, etwa mit aufwendigen Arrangements, handverlesenen Solisten aus Jazz und Weltmusik wie Trompeter Fabrizio Bosso oder dem brasilianischen Star-Cellisten Jaques Morelenbaum. Dazu groovige Samba- oder schwerelose Bossa-Klänge, über die sein Falsettgesang hinwegschwebt. Es ist die Filmmusik der 1950er und 60er Jahre, die ihn inspiriert, sagt der Neapolitaner. Musik, die handwerklich akustisch entsteht, wie man sie heute nicht mehr macht, Barbieri stellt musikalische Integrität über den schnellen kommerziellen Erfolg. Für ihn ist Musik zuallererst eine individuelle Äußerung. Barbieri, jetzt 47, war einst der Hoffnungsträger der italienischen Popszene. Davon hat er sich emanzipiert, um unbeirrt seine eigenen Vorstellungen von musikalischer Qualität zu verwirklichen. Der überstrapazierte Begriff Ausnahmetalent, hier passt er wirklich.
Peter Rixen
CD, Must Have Jazz / Membran
Amythyst Kiah: Wary + Strange
Was für eine Stimme. Fast könnte man glauben, Aretha Franklin sei wiederauferstanden, wenn man hört, wie Amythyst Kiah in Black Myself die einzelnen Silben unwiderstehlich in die dunkelsten Tiefen der Seele zerrt. Die 34-Jährige aus Tennessee war bislang vor allem bekannt als Teil des Projekts Our Native Daughters, in dem People of Colour vermeintlich weiße Musikstile wie Americana und Folk für sich reklamieren. Auf ihrem Solo-Album Wary + Strange geht Kiah diesen Weg nun konsequent weiter. Sie adaptiert Blues und Soul, aber eben auch im Mainstream als weiß markierte Genres wie Rock, Bluegrass und vor allem Country, um diese ganz bewusst dorthin zurückzustellen, wo sie hergekommen sind, nämlich in eine Schwarze Musiktradition. In ihren Texten verarbeitet sie ihr Leben, ihr mehrfaches Außenseitertum als Schwarze, Frau und Lesbe. Ein schmerzhafter Prozess, der nahezu notgedrungen zu solch bewegenden Klagegesängen wie Tender Organs führt. "I feel like dying", singt Amythyst Kiah, aber hier muss man ihr doch widersprechen. Da wird gerade ein Star geboren.
Thomas Winkler
CD, Concord Records/Universal
Shungudzo: I'm Not A Mother, But I Have Children
Zum Einstieg erst einmal ein Holzhmmer: Black Breath (Intro) ist eine Spoken-Word-Nummer, in der Alexandra Shungudzo "I have a dream" auf "I can't breathe" reimt und damit das ganze Elend der afro-amerikanischen Unterdrückungsgeschichte in eine schmerzhafte, aber kathartische Anklage überführt. So wird Platz geschaffen, um dasselbe Thema, also Schwarze Identität, Black Lives Matter und Schwarzen Alltag in berückenden Pop-Songs zu verarbeiten. Bestes Beispiel: It's A Good Day (To Fight The System) hat das Zeug zum größten Sommerhit seit Pharrell Williams' Happy, mit dem Gospel Already Free geht es direkt ins Paradies und mit dem Titelsong I'm Not A Mother, But I Have Children in den Soul-Balladen-Himmel. Es ist ein überwältigendes Debüt, in dem die gesamte bewegte Biografie von Alexandra Shungudzo Govere gipfelt. Aufgewachsen in Zimbabwe und emigriert in die USA, studierte sie an der Elite-Uni Stanford, wurde parallel zur ersten schwarzen Kunstturnerin im Nationalteam ihres alten Heimatlandes, gründete als Teenager eine Hilfsorganisation für AIDS-Waisen und wurde Reality-TV-Star in einer MTV-Serie. Nun, mit 31 Jahren, ist sie, wenn es dieser Welt nur ein wenig gerecht zugeht, der Popstar der Zukunft.
Thomas Winkler
Digital, BMG Rights Management