Gewissensentscheidung

Der Spiegel, 5. Juni 2021

Über Wochen hatten Spahn und Heil versucht, sich als Reformer in Sachen Pflege zu überbieten. Es war wie beim Märchen vom Hasen und dem Igel: Kaum hatte der eine Minister einen Entwurf vorgestellt, legte der andere mit einem anderen Papier nach. Im Kern ging es um die Frage, wie es gelingen kann, für höhere Löhne für Pflegekräfte zu sorgen und zugleich zu große Lasten für Heimbewohner zu vermeiden. Schon jetzt ist absehbar, dass weder das eine noch das andere überzeugend gelingen wird. Spahn und Heil verständigten sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. [...] Die Gewerkschaft Ver.di kritisiert daher, dass das Vorhaben keine Garantie für überall steigende Löhne sei. [...] Das Problem hängt auch mit Ver.di zusammen. Der Gewerkschaft wird es auch in Zukunft schwerfallen, Pflegekräfte auf die Straße zu bringen, um auf längere Sicht für höhere Löhne zu streiken. Es gibt keine offiziellen Zahlen, doch nur rund zehn Prozent der Pflegekräfte dürften Mitglied in der Gewerkschaft sein. [...] Für Pflegekräfte ist jeder Streik eine Gewissensentscheidung, die ihnen um ein Vielfaches schwerer fällt als einem Bandarbeiter in der Automobilindustrie: Er muss für den Arbeitskampf eine Maschine im Stich lassen, die Altenpflegerin einen hilfebedürftigen Menschen.

Natürlicher Ansprechpartner

Stuttgarter Zeitung, 11. Juni 2021

Die Wirtschaft sucht [...] das Gespräch in Erwartung einer künftigen Regierungsbeteiligung der Ökopartei. An Themen wie Klimaschutz und Ressourceneffizienz kommt kein Unternehmen mehr vorbei. [...] Die Gewerkschaften wissen: Sollte es nach der Bundestagswahl zu einer Regierung ohne SPD, aber mit den Grünen kommen, wären diese ihr natürlicher Ansprechpartner. Ein prominenter Gewerkschafter dürfte bald sogar für die Grünen in den Bundestag einziehen: Der langjährige Verdi-Chef Frank Bsirske steht in Niedersachsen auf dem sicheren Platz sechs der Landesliste.

Ein Stück Macht

Süddeutsche Zeitung, 9. Juni 2021

Klingt nach Witz, ist aber wahr: Es waren ausgerechnet die Bosse, die den Arbeitern Macht anboten. Weil die Herren im Anzug die schmutzigen Malocher nach Dekaden des Klassenkampfs plötzlich als Partner brauchten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Briten daran, das Herz von Adolf Hitlers Rüstungsindustrie zu zerschlagen. Die Stahl- und Kohlebosse im Ruhrgebiet wollten eine große Entflechtung verhindern. Den Arbeitern, die bei den Briten besser angesehen waren als mit den Nazis verquickte Industrielle, offerierten die Bosse daher: Sitze im Aufsichtsrat. Also ein Stück Macht. [...] Die Gewerkschaften konnten mehr Mitbestimmung durchsetzen, solange diese als Alternative zum Kommunismus erschien, resümierte der Historiker Jürgen Kocka schon 2007. Doch dies sei seit dem Ende des Ostblocks vorbei: "Eine wahre Demokratisierung der Wirtschaft ist unwahrscheinlich."