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Foto: Verleih

Wem gehört mein Dorf?

Ein Bus, voll besetzt mit weißhaarigen Urlauber*innen, rollt in der Rügener Ortschaft Göhren ein. Der Touristenführer weist aus dem Fenster: "Hier die Bratwurst, da die Fischbrötchen, und dahinter ist der Badestrand." Das Heimatdorf des Regisseurs Christoph Eder hat sich seit seiner Kindheit, seit der Wende, strukturell völlig gewandelt: Vom grauen Ostseeörtchen zum restlos ausgebuchten Tourismus-Hotspot.

Früh erkannten Investoren und Bodenspekulanten das Potenzial der Gegend und so kam es, dass heute ein Name über allem schwebt, was in Göhren passiert: Herr Horst. Dem millionenschweren Investor gehört inzwischen fast das ganze Dorf. Auf Kosten von Natur, von Wohnraum für die Menschen, die hier tatsächlich leben, und von kommunaler Infrastruktur, entstehen Ferienwohnungen und Hotels, deren Profite in Herrn Horsts Taschen wandern. Inzwischen hat er Göhren fest im Griff: "Die Vier von der Stange", ihm wohlgesonnene Göhrener, bilden im Gemeinderat die Mehrheit und boxen jedes seiner Bauvorhaben gegen Bedenken und Einwürfe der restlichen Bürger*innen durch. "Für Göhren nur das Beste", sagen sie. Und das Beste ist Wachstum.

Als nun die letzten naturbelassenen Flecken bebaut werden sollen, reicht es den Bürger*innen. Sie wollen das Schicksal ihres Dorfes in die eigene Hand nehmen und wissen, dass sie das nur schaffen, wenn sie sich zusammenschließen. Sie organisieren sich, gründen eine Bürgerinitiative und ziehen in den Wahlkampf.

Christoph Eder holt in seiner ersten Dokumentation in Spielfilmlänge Akteure mit völlig konträren Ansichten vor die Kamera, die doch allesamt der Überzeugung sind, das Beste für ihr Heimatdorf und ihre Gemeinschaft zu tun. Eder ist dabei als Erzähler präsent, die Porträtierten vertrauen ihm, wir hören ihn fragen und denken, schauen in seine Kindheitserinnerungen. Zwischen Strandkorb und Baustelle, Festplatz und Parkhaus, Fußballkneipe und Gemeinderatssitzung entfaltet sich so die alte Geschichte von David gegen Goliath zu einer Erzählung, die in kleinem, kommunalpolitischen Rahmen von globalen Geschehnissen erzählt: Wie wollen wir leben, und wer bestimmt darüber? Was ist unser Gemeinwohl? Wie kann Partizipation und Demokratie funktionieren? Wie kommt man als Bürger*in gegen fremde Kapitalinteressen, Gentrifizierung, Ausverkauf und Turbo-Tourismus an? Die mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnete Doku zeigt, dass jeder Kampf um Mitbestimmung in der Gemeinschaft beginnt, egal wie übermächtig der Finanzhai erscheinen mag. Feline Mansch

Dokumentarfilm, D 2021. Regie: Christoph Eder; Kamera: Domenik Schuster. L: 96 Min., Kinostart 12. August 2021

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The Father

Was tun mit einem alten Mann, der sich nicht helfen lassen will, obwohl sich sein Zustand zunehmend verschlechtert? Schon zahlreiche private Pflegerinnen hat der an Demenz leidende 80-Jährige vertrieben. Aber so geht es nicht mehr weiter, da seine Tochter wegen der Liebe nach Paris ziehen will und sich dann noch weniger um ihn kümmern kann. Muss der Brite dann in ein Heim? Wo genau in London befindet er sich überhaupt – in seiner Wohnung oder in der seiner Tochter? Zellers Kammerspiel mutet unheimlich an, weil wir alles mit den Augen des verwirrten Protagonisten sehen und der überragende Anthony Hopkins den Eindruck erweckt, er verschmelze mit seiner Figur, die noch dazu denselben Vornamen trägt wie er. So wie sich Menschen und Orte verändern, unterliegen auch wir, die Zuschauenden, Täuschungen, misstrauen unseren Wahrnehmungen und erleben am eigenen Körper, wie es ist, die Orientierung zu verlieren: Ist die Frau, die der Sturkopf Anne nennt, tatsächlich seine Tochter? Und was hat es mit dem fremden Mann im Wohnzimmer auf sich? Bis zum Schluss tappt man im Dunkeln – spannend! Kirsten Liese

GB 2020. R: FLORIAN ZELLER. D: ANTHONY HOPKINS, OLIVIA COLMAN, U.A. 98 MIN. KinoSTART: 26.8.21

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Gunda

Ein Film wie eine Meditation. Über Tiere, ihre Würde, ihren Blick, den die Kamera unmittelbar einfängt und auf unser Innerstes richtet. Das schafft der in Berlin lebende Regisseur aus St. Petersburg in dieser zauberhaften norwegischen Doku. Kommentarlos folgen schwarz-weiße Bilder dem Leben von Gunda, dem Hausschwein, ihren elf Ferkeln, und anderen Tieren auf dem Bauernhof. Der Dolby-Atmos-Ton ist so ausgefeilt, dass keiner das Aufsetzen der verwachsenen Hühnerkralle überhören kann, wenn sie nach einem Leben auf der Stange zum ersten Mal die Erde des Hofes berühren. Unterdessen hat Gunda zu tun. Elf Ferkel tollen auf ihr und um sie herum im Kampf um den besten Platz an der Zitzentheke, und doch hat sie irgendwann Zeit für ein kurzes Gesuhle im Schlamm. Ohne zu romantisieren zeigt der Film das Tierleben. Auch Gundas Drama, nachdem ihre propperen Ferkel abtransportiert sind: Überall sucht sie und grunzt und findet doch nur noch die Leere ihres Stalles vor. Jenny Mansch

Doku N/USA 2020. R: Victor Kossakovsky. K: Egil H. Larsen, V. Kossakovsky. KinoSTart 19.8.21