Die Reaktion – The Lost Jazz Vol. II

Er ist vieles: Komiker, Entertainer, Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur und unbestreitbar ein großes musikalisches Talent. Ein Gesamtkunstwerk, das Helge selbst einmal als „singende Herrentorte“ bezeichnet hat.

B06_07_Musik_Helge2.jpg

Er kann die Fundamentalisten des Free Jazz parodieren oder alles vom Schlager über Swing- und Bebop-Jazz bis zum Blues veredeln – durch derbe und hintersinnige Späße und dank seines Improvisationstalents und der zahlreichen Instrumente, die er beherrscht. Für die Freunde der Hochkultur ist hier Beethovens Mondscheinsonate plus Elise im Repertoire – vom Musik-Anarcho aus dem Ruhrpott allerdings ziemlich unbarmherzig zur Helge-Mutante verändert. Das bespaßt den Jazzfan, beglückt aber auch seine Comedy-Community. Vom Durchbrechen der Schallmauer beim Nordic Walking ist die Rede und schließlich beantwortet Helge auf diesem Album Fragen, die man sich nie zuvor gestellt hat, beispielsweise, warum der Papst nicht in die Eisdiele gehen kann. Muss man zwar nicht wirklich wissen, aber erheitern tut’s einen trotzdem. Peter Rixen

Musik_Miu_Cover.jpg

Miu

Richard Hensel, Jahrgang 1933, musste seinen Zwillingsbruder mit eigenen Händen beerdigen. Der Vater von Waltraud Pleß war SS-Offizier, sie selbst wurde 1945 im Alter von neun Jahren von Soldaten vergewaltigt. Der Vater von Manfred Hüllen, geboren 1939, wurde ins KZ Buchenwald geschickt. Drei von acht Zeitzeugen, die alt genug sind, den Zweiten Weltkrieg und das Nazi-Regime noch erlebt zu haben, sind die eigentlichen Stars des Video-Clips zu The Reminder, der aktuellen Single von Miu. Die Hamburger Soul-Sängerin, die bürgerlich Nina Graf heißt, singt in ihrer getragenen und intensiven Klavierballade davon, dass das Erinnern niemals enden darf, wenn man die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen will. Die Botschaft richtet sich an Populisten, Querdenker und andere Geschichtsrelativierer, die heute so tun, als stünde ihr Protest in einer Traditions­linie zum Widerstand gegen die Nazis. Die größte emotionale Kraft entwickelt der etwas konventionell geratene Song allerdings im Verbund mit dem in Kooperation mit der Zeitzeugenbörse Hamburg und der Amadeu-Antonio-Stiftung entstandene Video, wenn die Kamera tief in die vom Leben und Überleben gezeichneten Gesichter von Richard Hensel, Waltraud Pleß, Manfred Hüllen und der anderen Kriegskinder blickt. Thomas Winkler

CD-Single, Blue Eyed Soul

B06_07_Musik_Rafferty.jpg

Gerry Rafferty

Gerry Rafferty trug die Brillengläser zeitlebens stets leicht getönt, gern mit ­einem blauen Stich. Diesen weichgezeichneten Blick, mit dem der 2011 verstorbene Musiker durch die Welt schritt, schlug sich auch in seinen Songs nieder, die klangen, als wären sie im Cocktail­shaker ersoffen. Ein Sound, der den Urheber überlebte: Einerseits, weil dieses perfekt glatt polierte Klangbild aus im Herzschlag tuckernden Rhythmen, stylischem Saxofon, glitzernden Keyboard­flächen und keimfreien Soul-Melodien, prototypisch umgesetzt in Raffertys größtem Hit Baker Street, heute unter der Genre-Bezeichnung „Yacht Rock“ Streaming-Erfolge feiert. Auch US-Superstar John Mayer verbeugt sich auf seinem aktuellen Album Sob Rock vor diesem Genre. Andererseits, weil nun mit Rest in Blue ein Album erscheint, das Rafferty vor seinem Tod nicht mehr selbst beenden konnte. Seine Tochter Martha hat die alten Demos entstaubt, die schlimmsten Synthesizer-Unfälle weggemischt und die Essenz von Papas Songs offen gelegt. Und siehe da: Das Vermächtnis von Gerry Rafferty ist nicht nur ein typischer Sound, sondern auch erstaunlich gutes Songwriting. Thomas Winkler

Parlophone/Warner