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Das Wässern der Felder ist mühsam, die Schläuche müssen immer wieder neu verlegt werden
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Wasser zum Kochen muss aus vereinzelten Tanks geholt werden
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Aboubakar Soumahoro, Begründer der "Lega Braccianti" (Liga der Erntehelfer), mitten in einer Versammlung im Ghetto Borgo Mezzanone
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Baracken aus Karton, verrostetem Wellblech und aufgeschnittenen Plastiktüten – so hausen die Unsichtbarenhttps://giuliopiscitelli.viewbook.com
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Aktivist Yvan Sagnet
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Die mobile Krankenstation macht auch immer wieder im Ghetto Borgo Mezzanone Halthttps://giuliopiscitelli.viewbook.com

Jedes Mal, wenn Yvan Sagnet von Rom nach Apulien fährt, erinnert er sich, wie er früher auf den Tomatenfeldern gearbeitet hat. Er weiß auch, wie sich das Leben in den Ghettos rund um die Gemüsefelder anfühlt, ohne Wasser und Strom, das karge Essen, ein Teller zu Dritt, weil sonst vom Tagesverdienst nichts übrigbleibt. Jedes Ghetto ist eine eigene Welt, sagt er, mit Garküchen, Barbieren und Orten für das Gebet. Als er noch selbst als Erntehelfer im Ghetto lebte, wurde er mit den anderen morgens um fünf zusammengetrieben und von den "Caporali", den berüchtigten Vorarbeitern, auf die Felder gekarrt. Eine ganze Tonne Tomaten muss ein Tagelöhner ernten, um für 12 bis 14 Stunden Arbeit am Tag auf 35 Euro zu kommen. Noch während seines Ingenieurstudiums hat Sagnet den ersten Streik der Erntehelfer organisiert. Zehn Jahre sind seither vergangen.

Angekommen in Foggia ist das rosa Gebäude der Gewerkschaft CGIL, (Confederazione Generale Italiana del Lavoro) schon von weitem zu erkennen: Die Menschen, die hier Rat und Hilfe suchen, stammen aus Afrika, auch ein paar Rumänen und Bulgaren sind darunter. Etwa 50.000 Erntehelfer*innen, meist Migrant*innen, arbeiten allein in der Region Apulien. In ganz Italien sind es einige hunderttausend, knapp 80 Prozent davon sind Illegale. Die Frauen arbeiten in der Konservenproduktion, die Männer auf dem Feld.

Die Schaltzentrale der Gewerkschaft

Das Büro von Gewerkschafter Daniele Iacovelli in Foggia wirkt trotz seiner Enge wie eine Schaltzentrale. Am Abend zuvor wurden er und seine Kollegen ins Ghetto Borgo Mezzanone gerufen, weil ein Brandanschlag verübt wurde – vermutlich durch Einheimische, denen die Ansiedlung der Migrant*innen nicht passt. Erst ein paar Tage zuvor war ebenfalls abends auf drei Erntehelfer ein bewaffneter Überfall verübt worden, bei dem ein junger Mann aus Mali ein Auge verlor. An den alltäglichen Rassismus hat man sich längst gewöhnt, bedauert Iacovelli. "Es ist einfach keine Nachricht mehr wert, unter welchen Bedingungen die Erntehelfer hier leben."

Im Ghetto der Erntehelfer

Auf der Weiterfahrt ins Ghetto dabei ist Ebraima, 24, geboren im Senegal, der gerade ein Praktikum macht. Ebraima spurtet auf den Bus zu, in dem etwa dreißig junge Männer sitzen. Draußen erstrecken sich bis zum Horizont endlose Felder mit Tomaten, Zucchini, Auberginen, Fenchel, Sellerie, Salat und Kartoffeln: 500.000 Hektar Land, eines der größten und fruchtbarsten Anbaugebiete Italiens. Vieles von dem, das in Deutschland als gesund und vitaminreich auf den Tisch kommt, stammt von hier. Schon seit 500 Jahren wird hier Korn und Gemüse für das ganze Land angebaut, inzwischen für nahezu ganz Europa.

"Es ist einfach keine Nachricht mehr wert, unter welchen Bedingungen die Erntehelfer hier leben"
Gewerkschafter Daniele Iacovelli

Nach einer halben Stunde rasanter Fahrt stoppt der Bus in Borgo Mezzanone. Auf einem schmalen Trampelpfad strömen unablässig junge Männer von und zum Ghetto, das etwa drei Kilometer außerhalb des Ortes liegt. Baracken aus Karton, verrostetem Wellblech und aufgeschnittenen Plastiktüten ziehen sich kilometerweit durch die Ebene. Bei Regen steht das alles im Schlamm. Um die Baracken herum Müll, wohin man blickt: zerbeulte Autos, in denen angeschlagene Waschbecken lagern, kaputte Fahrräder, aus denen man vielleicht ein neues basteln könnte. Während der Tomatenernte leben bis zu zweitausend Menschen hier.

Aus einem Auto steigen zwei Afrikanerinnen, die ihre Haare blond gefärbt haben. Die Männer im Wagen bleiben sitzen und fahren schnell davon. Die paar Dutzend Frauen, die hier leben, arbeiten als Köchinnen oder Prostituierte, zu denen am Wochenende auch die Einheimischen aus Borgo Mezzanone gehen. Ein Kalb hängt an den Füßen angebunden vor einer Hütte, vor der ein Mann das Messer wetzt. Ein paar Meter weiter duften exotische Gewürze aus einem improvisierten Lokal heraus.

Vor der nächsten Behausung putzt sich ein junger Mann die Zähne mit Wasser aus einer Plastikflasche. Der Strom kommt – manchmal – von Generatoren, Wasser aus der Leitung und Abfallbeseitigung gibt es nicht. Die Blicke der jungen Männer, die den Weg entlangkommen, sind undurchdringlich und stumm in die Ferne gerichtet.

Ob Ebraima solche Orte auch in Afrika kennt? Er schüttelt traurig den Kopf. Seiner Mutter hat er am Telefon nie von den Slums erzählt. Inzwischen hat er eine winzige Wohnung gefunden, aber für jeden, der hier weggeht, rückt sofort ein neuer nach. Die Menschen, die in diesen menschenunwürdigen Behausungen leben, sind wie Ebraima Geflüchtete aus Westafrika, aus Mali, Niger und Senegal – Illegale. Auch ein paar Syrer und Afghanen sind darunter. Nachdem die Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete 2018/2019 vom früheren Innenminister Matteo Salvini, Mitglied der rechtspopulistischen Lega, abgebaut wurden, sind viele Migrant*innen in den Ghettos gestrandet.

Auch Ebraima. Zwei Jahre war er durch die Wüste unterwegs, danach in einem libyschen Lager, schließlich landete er in diesem italienischen Ghetto. Selbst wenn er wollte, könnte er nicht zurück, weil das ganze Dorf für seine Reise gesammelt hat und das Scheitern eine zu große Schande wäre.

Krank, unterernährt, erschöpft

Am Ende der Baracken stehen zwei Reihen Metall-Container, die die Region für die Erntehelfer hingestellt hat: auf stabilerem Untergrund, aber genauso schäbig. Der Rückweg auf einem Feldweg führt an einer mobilen Krankenstation vorbei, die dort Halt macht.

Die Ambulanz dient auch als Info-Schalter, um mit den "Invisibili", den Unsichtbaren – wie sich die Flüchtlinge selbst nennen –, Kontakt aufzunehmen. Insgesamt 30 Ärztinnen und Ärzte der Region behandeln die Erntehelfer kostenlos. Viele sind krank, unterernährt, erschöpft von der harten Arbeit, haben psychische Probleme. Borgo Mezzanone ist nur eines der Ghettos, die, in der Provinz verstreut, in der Nähe der Felder liegen.

Don Andrea Pupilla ist Direktor der Caritas Foggia im benachbarten Ort San Severo, die die mobile Krankenstation betreibt. In seiner Gemeinde liegt auch das kleinere Ghetto Rignano. "Die Menschen unterwerfen sich diesem mafiösen System, wo sie sogar für die verdreckte Matratze zahlen, weil es hier Arbeit gibt. Wenn ein Ghetto zwangsgeräumt wird, wollen sie meistens gar nicht weg." In den umliegenden Dörfern scheine niemandem bewusst zu sein, dass die Landwirtschaft, der wichtigste Wirtschaftszweig, ohne die Arbeit der rund 50.000 Migrant*innen gar nicht bestehen könnte, sagt der junge Priester, der eher das Auftreten eines Managers hat. 90 Ehrenamtliche sind in seinem Team aktiv, auch pensionierte Lehrer, die am Abend im Ghetto Italienisch unterrichten.

Die Ausbeutung von Erntehelfer*innen findet im ganzen Mittelmeerraum statt. In der spanischen Presse ist immer wieder von sexuellen Übergriffen auf Marokkanerinnen die Rede, die dort auf den Erdbeerfeldern arbeiten. In Griechenland sind 90 Prozent der Erntehelfer Migrant*innen, häufig ohne Arbeitsvertrag. Ein System von Vermittlern verteilt sie an die Betriebe, die ihren täglichen Bedarf melden. Das größte Problem in Griechenland, heißt es bei der Organisation "Terra!", seien die fehlenden Kontrollen. Der Vertrag, der die vorsieht, wartet schon lange auf seine Unterzeichnung.

In Italien hat eine Diskussion über das Problem zumindest begonnen. "Früher erfolgte die Anstellung in der Landwirtschaft ausschließlich über die Arbeitsvermittlungen", sagt der Gewerkschafter Iacovelli. "Dann hat der Staat Personal und technische Mittel abgebaut. Als Folge davon wandten sich die Betriebe gleich an die Vorarbeiter, die Vermittler: ein Teufelskreis."

Etwa 5 Cent pro Arbeitsstunde verdienen, laut einer Studie der Gewerkschaft, die "Caporali", kurz Capo, an einem Erntehelfer. Für den Transport auf die Felder kassieren sie 5 Euro, für ein karges Mittagessen 3 Euro 50 pro Arbeiter. Wenn ein Capo 20 bis 30 Erntehelfer unter sich hat, kommt er auf ein paar Tausend Euro im Monat. Die Aufsicht hat meist ein schwarzer Capo, über dem wiederum der weiße Capo wacht. Bezahlt wird Akkordlohn, 3 Euro 50 pro Kiste Gemüse, obwohl das in Italien ebenso verboten ist wie die Tätigkeit der "Caporali". Vom Tagesverdienst von etwa 35 Euro gehen die Kosten für den Vermittler ab. Die meisten Erntehelfer halten diese unmenschlichen Bedingungen nur aus, um ihre Familien in Afrika zu unterstützen.

Lavoro grigio, die graue Arbeit

Um Abgaben zu sparen, stellen die Bauern die Erntehelfer nur für wenige Wochen im Jahr ein, ansonsten arbeiten sie schwarz: "Lavoro grigio", graue Arbeit, nennt man das in Italien. Viele Erntehelfer bleiben auch im Winter in Apulien, wo Gemüse wie Broccoli geerntet wird; andere ziehen nach Sizilien oder Kalabrien zur Oliven- und Orangenernte. Die Milliarden Euro an Subventionen für die Landwirtschaft, die die Europäische Union an Italien zahlt, werden nach Hektar berechnet. Die kleinen Anbauer gehen meist leer aus. Yvan Sagnet, der nicht nur den ersten Streik der Erntehelfer organisiert, sondern auch das Anti-Ausbeutungs-Siegel "NoCap" ins Leben gerufen hat, sagt, für ein Kilo Tomaten würden an die Anbauer derzeit 9 Cent bezahlt, 16 Cent für ein Kilo Orangen. Den Preis diktieren die Abnehmer, die großen Handelsketten. Deren Profit ist enorm. Die Anbauer hingegen sind erpressbar, weil ihr Obst und Gemüse leicht verderblich ist.

Ohne Ausbeutung geht es auch

Francesco Piobicchi, Mitarbeiter von "Mediterranean Hope" im kalabrischen Rosarno, ärgert vor allem eins: "Das Kriterium biologischer Anbau wird auch benutzt, um das Thema Arbeitnehmerrechte zu verschleiern." Ein Großteil der biologischen Produktion beutet seiner Erfahrung nach ebenso Erntehelfer aus. Von den 30.000 Hektar Olivenhainen und 10.000 Hektar Orangenplantagen in Kalabrien wird vor allem der deutsche Markt beliefert. Für Francesco Piobicchi muss es eine soziale Verantwortung der Unternehmen geben. Das unlängst verabschiedete deutsche Lieferkettengesetz, das ab 2023 in Kraft treten wird, ist für ihn der erste Schritt in diese Richtung.

Yvan Sagnet ist vorwiegend als Aktivist in Apulien unterwegs, um Kooperationspartner für sein Label zu finden und um Erntehelfer*innen mit Verträgen aus der Illegalität zu holen. Von Sergio Mattarella, seit 2015 Italiens Staatspräsident, wurde er für seinen Einsatz bereits mit einem Verdienstorden ausgezeichnet. Sein Label "NoCap", "No Capolarato", keine Kaporale, für Dosentomaten gibt zusätzlich zu den anerkannten Bio-Siegeln die Garantie, dass ohne Ausbeutung produziert wurde.

Wie das gehen kann, zeigt in der apulischen Provinz die Kooperative "Pietra di Scarto", die von Foggia Pietro Fragasso geleitet wird. Hier werden die Erntehelfer für den Sommer festangestellt, zu einem Lohn für 1.200 Euro für 6 1/2 Stunden Arbeit am Tag. "Man müsste den Verbraucherinnen und Verbrauchern nur einmal erklären, wie ein Preis zustande kommt. Denn wenn ein Preis sehr niedrig ist, hat unweigerlich ein anderer dafür bezahlt." Fragasso sieht nur dann Chancen für eine landwirtschaftliche Entwicklung in der Region, wenn das größte Problem, die Ausbeutung der "Unsichtbaren", gelöst wird.

"Die Konsument*innen müssen anfangen, sich zu fragen, wie die Preise zustande kommen und was davon bei den Erntehelfern hängenbleibt"
Aboubakar Soumahoro, Begründer der "Lega Braccianti", der Liga der Erntehelfer

Ende Juni war zuletzt ein junger Erntehelfer aus Mali in der Hitze an einem Herzinfarkt gestorben. Die Region Apulien hat daraufhin zumindest ein Ernteverbot zwischen 12 und 16 Uhr erlassen. Und: Seit Obst und Gemüse als Folge der Pandemie in Italien teurer wurden, werden die Umstände, wie geerntet wird, öffentlich diskutiert.

In Zusammenarbeit von Caritas und Innenministerium ist das nationale Projekt mit der Abkürzung "Sipla" gegen Ausbeutung an bislang 40 Orten in ganz Italien entstanden. Über die Caritas gibt es, in Absprache mit der Präfektur, die Möglichkeit, dass Erntehelfer*innen eine Adresse erhalten, damit sie Papiere beantragen können. Denn schließlich entgehen dem Staat auch enorme Sozialabgaben. Angedacht sind auch Lehrgänge in Landwirtschaft zusammen mit der Universität, damit die Migrant*innen mit einer Ausbildung in ihre Heimatländer zurückgehen könnten.

Die erste Demonstration

Es ist auch das Verdienst des Ivorers Aboubakar Soumahoro, Begründer der "Lega Braccianti", der Liga der Erntehelfer und der Bewegung der "Invisibili", dass die Ausbeutung auf Italiens Feldern in die Öffentlichkeit gelangt ist. "Manche halten die Ghettos für Dschungel", sagt Soumahoro. "Aber die Löwen lauern anderswo." Auch Soumahoro hat während seines Soziologie-Studiums als Erntehelfer gearbeitet. Mit seinem Anliegen, die Rechtlosigkeit der Unsichtbaren zu beenden, ist er derzeit in ganz Italien, von Rom bis Mailand und Genua, unterwegs. Mit Charisma und politischem Gespür hat er es auch in die italienischen Talk-Shows geschafft.

Mitte Mai fand die erste Demonstration der Erntehelfer*innen vor dem Parlament in Rom statt, im Juni wurde die erste Jahresversammlung abgehalten. Doch um den Teufelskreis der Ausbeutung zu durchbrechen, komme es auf eine Bewusstseinsänderung der Verbraucher*innen an, schließlich gebe es einen ethischen Geschmack des Produkts. "Die Konsument*innen müssen anfangen, sich zu fragen, wie die Preise zustande kommen und was davon bei den Erntehelfern hängenbleibt", sagt Soumahoro.

Stand aktuell: Mitte Juli haben die derzeitige parteilose italienische Innenministerin Luciana Lamorgese und Vertreter der Gewerkschaft CGIL-Flai (Federazione lavoratori Agroindustria) ein Protokoll unterzeichnet, das die Ausbeutung in der Landwirtschaft bekämpfen soll.

Dennoch: Bislang ist noch zu wenig geschehen. Aber viele haben beschlossen, nicht mehr wegzusehen.