Ausgabe 06/2021
Wie schön du bist!
Mitgefühl
Pflege neu denken – so der Untertitel dieses überraschend fröhlichen Dokumentarfilms – war genau das, was May Bjerre Eiby wollte. Die dänische Krankenschwester hatte ihren dementen Vater in einem Pflegeheim an starker Vernachlässigung sterben sehen, vollgepumpt mit Medikamenten. Um solche Zustände zu verändern, qualifizierte sie sich weiter und eröffnete ein privates Pflegeheim für Demenzkranke, das sich jeder leisten kann.
Statt starker Medikamente erhalten die Bewohner in "Dagmarsminde" höchstens noch eine Pille am Tag: Paracetamol. Außerdem Mitgefühl, von Ruhe geprägte Pflege, Geduld und Komplimente. Für gute Stimmung und Genuss gibt es "jede Menge Kuchen", ab und zu Sekt und Portwein, etwa am Geburtstag der Königin, und wenn jemand aus der Gemeinschaft verstirbt, singen alle am Sarg das Lieblingslied. Ebenso achtsam zeigt die Filmemacherin, wie die Bewohner*innen ihre abgestumpften Sinne neu erleben: Das Geklapper des Blümchengeschirrs, das Berühren von Bäumen mit den Händen beim Waldbaden, das satte Knistern des Lagerfeuers zeigen Momente des Glücks, auch wenn sie am nächsten Tag wieder vergessen sind. "Ein Leben mit Demenz ist ein Leben im Augenblick", sagt die Leiterin.
Zwölf Bewohner, darunter auch Ehepaare, leben hier wie in einer WG; zum Haus gehören Hund und Katze, im Hof leben die Hühner, "auf einem hübschen Haufen", wie Bewohner Torkild jeden Abend feststellt. Ihm ist gar nicht bewusst, dass er dement ist. Die Pflegekräfte stützen seine Selbstwahrnehmung, ohne ihn zu belügen. Der Film gewährt auch Einblick in das Ringen des Personals um die richtige Entscheidung, etwa im Umgang mit dem nahenden Tod einer Bewohnerin. Während sie stirbt, sind die Pflegerinnen bei ihr. "Wie schön du bist", sagt eine und streichelt ihre Wange, "gute Reise, Grethe."
Um den Patienten, ihren Angehörigen und Pfleger*innen ein solch würdiges Lebensende zu ermöglichen, muss niemand reich sein. Eibys Heim wird von den Kommunen steuerfinanziert wie alle dänischen Pflegeheime, Zuzahlungen gibt es nicht. Auch der Pflegeschlüssel ist gleich. Die Bewohner erhalten eine normale staatliche Rente. Dänemark aber wendet im Vergleich zu Deutschland finanziell etwa das Doppelte für seine Altenpflege auf. Trotzdem muss sich auch dort Eibys Konzept erst durchsetzen. Deshalb schreibt sie Bücher darüber und hält viele Vorträge. Denn die Warteliste für einen Platz in "Dagmarsminde" ist lang. Jenny Mansch
Dk/D 2021, R: Louise Detlefsen. Kamera: Per Fredrik Skiöld, Ton: Frank Møldrup, Kinostart 23.9.2021
Je suis Karl
Die Geschichte dieses Films ist so heimtückisch wie verführerisch. Zuschauerin und Zuschauer erfahren sehr früh, dass die Figur des titelgebenden Karl zwei Gesichter hat. Dennoch lässt man sich von ihm genauso mitreißen wie Maxi, die durch einen Terroranschlag ihre Mutter und Zwillingsbrüder verliert. Auch ihr Vater droht ihr abhanden zu kommen; der Tod seiner Frau und Söhne scheint ihn in den Wahnsinn zu treiben. Maxi treibt der Mord an den geliebten Menschen in die Arme von Karl und in eine rechte europäische Jugendbewegung, deren charismatischer Anführer Karl selbst ist. Obwohl Maxi die richtigen Fragen stellt, lässt sie sich nicht nur durch ihre Verliebtheit blenden, sondern auch vom hippen und wilden Auftreten der jungen Menschen um sie herum, die sich der Bewegung Karls aus ganz Europa angeschlossen haben. Immer wieder nimmt der Film überraschende Wendungen, bis zum beängstigenden Ende. Man bangt mit Maxi, hofft, dass Karl aussteigt und seine von Menschenverachtung getriebene Bewegung auseinanderbricht. Ein Film voll Dramatik und Spannung. Petra Welzel
D/CZE 2021, R: Christian Schwochow, D: Luna Wedler, Jannis Niewöhner, Milan Peschel, 126 Min., Kinostart 16.9.2021
Helden der Wahrscheinlichkeit
Kaum wiederzuerkennen ist Mads Mikkelsen als depressiver Soldat, der ratlos vor dem Tod seiner Frau steht. Sie ist bei einem U-Bahn-Unglück ums Leben gekommen, das die Tochter überlebt. Da erscheinen zwei schräge Mathematiker, die ihm erläutern, dass der Unfall kein Zufall war. Einer der beiden saß ebenfalls in der Unglücksbahn und sucht sein Heil nun in einer seiner Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die ihn gerade erst den Job gekostet haben. Mithilfe seiner Freunde, allesamt seelisch angeschlagen, sind die Schuldigen bald gefunden: die Rockergruppe Riders of Justice. Statt Therapie ist Rache nun Blutwurst. Auch der neue Film des dänischen Kult-Regisseurs Jensen kreist um die Frage, wie unterschiedlich die Menschen mit großem Leid umgehen. Und erneut treffen wir auf sein bewährtes Stamm-Ensemble der mittlerweile populärsten Schauspieler des Landes, die man in wechselnder Zusammensetzung aus früheren Filmen kennt. Sie holen aus dieser wilden,geistreichen Mischung aus Komödie, Drama und Splatter lustvoll alles heraus, was Zuschauerin und Zuschauer erheitert, berührt und wohlig schockiert. Jenny Mansch
DK 2020, R: ANDERS T. JENSEN, D: MADS MIKKELSEN, NIKLOAJ LIE KAAS, NICOLAS BRO, LARS BRYGMAN, ANDREA HEICK GADEBERG, 116 MIN, Kinostart 23.9.2021