Ausgabe 07/2021
Neue Heimat Kassel
Sechs Jahre ist es her, dass Terhas Andezion in Kassel die Freitreppe mit den vergoldeten Löwen zur Rathaustür hinaufstieg, um sich vorzustellen. Eine Freundin hatte ihr von einer Stelle erzählt und sie ermutigt, sich zu bewerben. "Ich hätte mich von allein wohl nicht getraut. Das Rathaus hat ja so etwas Erhabenes", sagt Terhas Andezion in akzentfreiem Deutsch. Die Stelle bekam sie dann. Anfangs klemmte sie sich gern eine Behördenmappe unter den Arm, wenn sie durch die Gänge des Rathauses eilte. "Dann konnten alle sehen, dass ich eine städtische Mitarbeiterin bin", sagt die Frau mit der dunklen Hautfarbe und einem beeindruckenden Dutt. "Das Zutrauen, dass ich hier arbeite, ist noch nicht für alle selbstverständlich," glaubt die 41-Jährige bis heute.
Terhas Andezion wurde in Eritrea geboren, floh mit ihrer Mutter in den Sudan und kam als 10-jähriges Mädchen allein nach Deutschland. Sie wurde in die erste Grundschulklasse gesteckt, und obwohl sie rasch die neue Sprache lernte und Klassen übersprang, trauten ihr die Lehrer den Besuch des Gymnasiums nicht zu. Sie schaffte das Abitur dennoch und studierte Wirtschaftswissenschaften.
Migrantinnen mit großen Potenzialen
Heute leitet die verheiratete Mutter zweier Kinder ein Arbeitsförderungsprojekt im Sozialamt der nordhessischen Großstadt, hat mehrere Mitarbeiterinnen und organisiert die Zusammenarbeit mit mehr als einem Dutzend Organisationen. Wenn sie davon berichtet, sprühen ihre Augen vor Begeisterung. Das Projekt zielt darauf ab, dass zugewanderte oder geflüchtete Frauen angemessene Stellen auf dem deutschen Arbeitsmarkt finden. "Es gibt einen Fachkräftemangel, und es gibt Migrantinnen mit großen Potenzialen. Aber oft sind sie unsichtbar und wissen nicht, wie sie die vielen Hürden überwinden können", sagt Andezion.
Die Teilnahme am Projekt ist freiwillig, die Betreuung engmaschig, individuell, ganzheitlich und langfristig. Nach einer zwölfwöchigen Orientierung über soziale Berufe und einem Praktikum wird geschaut, was die Frauen jeweils brauchen. Manche bringen nur eine Grundschulbildung mit, die meisten sind Mütter und manchmal auch noch für pflegebedürftige Verwandte zuständig. Sie bekommen eine passgenaue Sprachförderung und jeweils eine Coachin zur Seite. Viele absolvieren ihre Ausbildung in Teilzeit. Sind die ersten Hindernisse gemeistert, brechen nur noch wenige ab. "Wir entlassen die Frauen erst, wenn sie sicher angekommen sind. Und", betont Andezion, "unsere Tür bleibt immer offen."
Die "Fachkräfte-Offensive"
130 Frauen werden gegenwärtig begleitet. Eine von ihnen ist Ellen Opoku Awotwi aus Ghana. Jahrelang hat sie sich mit Putzjobs über Wasser gehalten, jetzt macht die dreifache Mutter eine Ausbildung zur Pflegefachkraft. Gerade kommt sie von ihrer Arbeit und schaut noch bei Terhas Andezion vorbei. Von den alten Leuten fühle sie sich akzeptiert, einige Kolleginnen dagegen seien skeptisch, sagt sie. "Ich sehe es an ihrer Mimik – und sie reden nicht mit mir." Ob sie sich in Kassel willkommen fühlt? Sie überlegt mehrere Sekunden, sagt dann "ja" und lacht. Strahlend berichtet sie von ihrer Coachin, mit der sie sich jede Woche trifft: "Wenn es Probleme gibt, finden wir zusammen eine Lösung." Berge von Bürokratie seien zu bewältigen, auch beim Deutschlernen oder für Fragen zu Kita und Schule sei sie ansprechbar. "Frau Mayer ist wie ein Engel," schwärmt Ellen Opoku Awotwi – und lacht wieder ihr lebensfrohes Lachen.
Manwa Alhaj aus Syrien ist ebenfalls sehr angetan von der Unterstützung. Seit vier Jahren lebt sie in Deutschland. "Ich will nicht mehr vom Jobcenter abhängig sein, ich möchte das Leben hier richtig genießen," sagt die 47-Jährige, die sich für eine Ausbildung zur Altenpflegerin entschieden hat. So schnell wie möglich will sie die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen. Und wenn sie heute jemand fragt, wo sie herkommt, antwortet sie: "Aus Kassel."
Bei Buket Görgec liegt der Fall anders: Die Liebe zog sie nach Kassel, ein Studium und Berufspraxis als Vorschullehrerin brachte sie bereits aus der Türkei mit. Doch die Abschlüsse wurden nur zum Teil anerkannt. Dank des vom Land geförderten Projekts "Fachkräfte-Offensive" absolviert sie nun ein Praktikum, sodass sie anschließend als anerkannte Erzieherin in einer Kita arbeiten kann. Angesichts des wachsenden Fachkräftemangels ist das eine Win-win-Situation für die Zugewanderte und die Stadt.
Migration prägt Kassel seit Jahrhunderten. Heute haben rund 40 Prozent der Menschen in der 200.000-Einwohner-Kommune Wurzeln im Ausland, bei den Kindern sind es mehr als die Hälfte – sei es, dass sie selbst eingewandert oder geflohen sind, sei es, dass mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Anfang der 1980er Jahre schuf Kassel einen Ausländerbeirat mit politischen Einflussmöglichkeiten. In jedem Amt gibt es feste Ansprechpartner*innen, zugleich sind alle Dezernate in der AG Integration vertreten. Wer mit Menschen spricht, die beruflich mit dem Thema zu tun haben, hört immer wieder einen Satz: "Die Wege in Kassel sind kurz."
Wo aus Vielfalt Neues entsteht
Carsten Höhre, bis vor kurzem Integrationsbeauftragter der Stadt, sagt: "Im Zentrum steht bei uns der Zusammenhalt für ein friedliches und respektvolles Miteinander." Integration bedeute nicht, dass sich die Zugewanderten möglichst geschmeidig in die bestehenden Strukturen eingliedern; vielmehr entstehe durch die Vielfalt immer wieder Neues. Dreh- und Angelpunkt fürs Zusammenleben sei das Grundgesetz – und dessen Werte sind nicht verhandelbar. Das betont Höhre immer wieder sehr deutlich, wenn er zum Beispiel den Arbeitskreis der muslimischen Gemeinden moderiert. "Da geht es manchmal richtig zur Sache bei Themen wie Afghanistan, Schulsport oder die Stellung der Frau," erzählt der 61-Jährige. Alle paar Wochen treffen sich hochrangige Vertreter*innen der verschiedenen Glaubensgemeinschaften zum Austausch am Runden Tisch der Religionen.
An zentraler Stelle im Rathaus hat der Gesamtpersonalrat der Stadtverwaltung seine Räume. Weil alle Türen offenstehen, können Besucher*innen durch die gesamte Büroflucht blicken. Auch Aydan Karakas-Blutte hat hier ihr Büro. Seit 2012 ist sie Vorsitzende des Gesamtpersonalrats und vertritt die Interessen von etwa 3.600 Beschäftigten. Kürzlich wurde sie zum zweiten Mal wiedergewählt – erneut einstimmig.
Karakas-Blutte ist Kind einer türkischen Gastarbeiterfamilie und in den 1960er Jahren eingewandert. Ohne Zweifel ist die Frau, die einen ver.di-Sticker am Revers ihrer leuchtendblauen Jacke trägt, ein zentraler Knotenpunkt im Kassler Universum. Sie kennt viele und ist bekannt, hört intensiv zu und weiß um die Fähigkeiten der Menschen und wen sie wofür ansprechen kann. Nach dem Studium arbeitete sie mit benachteiligten Familien, in der Schulsozialarbeit und in der Jugendgerichtshilfe, bevor die Jugenddezernentin sie als ihre Referentin berief.
Rund 40 Prozent der Bevölkerung in der 200.000-Einwohner-Kommune Kassel haben Wurzeln im Ausland, bei den Kindern sind es mehr als die Hälfte
Offene Vorbehalte habe sie nie gespürt. "Aber integriert zu sein, ist nicht gleichbedeutend damit, nicht diskriminiert zu werden", sagt die 61-Jährige. Bis heute bekommt sie immer wieder zu hören, wie gut ihr Deutsch sei. Oder jemand glaubt, ihr ein Kompliment zu machen mit der Bemerkung, sie sähe ja gar nicht türkisch aus. "Die halten lieber an ihren eigenen Vorstellungen fest, als ihr Weltbild zu verändern", kommentiert sie solche Erfahrungen. Für ihre Personalratskollegin Charlene Hackley, dunkelhäutig, in Baunatal geboren und aufgewachsen, sind solche Erfahrungen noch viel alltäglicher.
Inzwischen umwirbt die Stadtverwaltung explizit junge Menschen mit Migrationshintergrund, sich zu bewerben. Bei den Azubis entspricht ihr Anteil inzwischen annähernd dem der Gesamtbevölkerung. "Das sind aber nur Schätzungen. Aus Datenschutzgründen dürfen wir so etwas nicht abfragen", erklärt Ina Kolter, die Leiterin der Personalabteilung. Für eine Beamtenlaufbahn braucht es hingegen einen EU-Pass, Anwärter*innen mit nichtdeutschen Wurzeln stellen da lediglich rund 10 Prozent.
Eindeutige Zeichen gegen Rechts
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite vom Rathaus hat Teslihan Ayalp ihr Büro. Sie koordiniert in Kassel das WIR-Programm, mit dem das Land Hessen Integrationsprojekte fördert. Aus dem Fenster des Besprechungsraums blickt sie rüber auf die Rathausfassade, wo zwischen üppig wuchernden Geranien ein Banner prangt: "Kassel hält zusammen". Die Botschaft ist ein eindeutiges Zeichen gegen Rechts: 2019 ermordete ein Neonazi den Kassler Regierungspräsident Walter Lübcke, 2006 starb der Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat durch Schüsse von NSU-Terroristen. "Der Sohn türkischer Einwanderer durfte nur 21 Jahre alt werden," sagt Ayalp.
Sie selbst stammt aus dem Südosten der Türkei. Schon zwanzigmal ist es ihr und ihren Mitstreiter*innen gelungen, bei WIR einen Zuschlag zu bekommen. Hört Ayalp von irgendeinem Fördertopf, informiert sie Vereine, Bildungsträger, Diakonie oder Verwaltungsstellen, für die das nützlich sein könnte. Manche Projektidee ist auch im halbprivaten Kreis an ihrem Küchentisch entstanden. Oder sie schnappt Beispiele aus anderen Städten auf. "Im Fernsehen hatte ich gesehen, dass Geflüchtete durchs Berliner Pergamon-Museum führen", erzählt sie. So gibt es nun auch im Kassler Heimatmuseum Angebote auf Afghanisch oder Russisch, Tigrigna oder Bulgarisch – durchgeführt von Kassler*innen mit entsprechender Muttersprache. Mit ihrer je eigenen Erfahrung schreiben sie die Stadtgeschichte fort.
Als 13-jähriges Flüchtlingsmädchen hat Ayalp erfahren, wie wichtig Erwachsene sind, die sich um junge Menschen kümmern, die entwurzelt und manchmal ohne Eltern in Deutschland ankommen. Bei ihr war es eine Lehrerin an der Gesamtschule, die sie nicht nur zum Lernen ermutigte, sondern auch viele Male für sie und ihre Geschwister gekocht hat. Aus Dankbarkeit hat Ayalp ihrer Tochter den Namen der Lehrerin gegeben. "Wir dürfen es nicht dem Zufall und Glück überlassen, ob Kinder hier eine echte Chance bekommen", ist ihr unverrückbarer Standpunkt. Natürlich sei keine Stadtverwaltung in der Lage aufzufangen, was in den Familien schieflaufe. Doch mindestens abfedern sollte der Staat solche Ungerechtigkeiten.
Im Ankommensstadtteil
Knapp fünf Kilometer entfernt liegt die hintere Nordstadt, seit langem ein Ankommensstadtteil: Hier wohnen überwiegend Menschen, die neu zugewandert sind. Eine laute Straßenschneise durchzieht das Viertel, zwischen den schlichten Mietskasernen gibt es nachts gelegentlich Rabatz. Wer Fuß gefasst hat und es sich leisten kann, zieht meist weg von hier.
In einer ruhigen Seitenstraße baut Cordula Klinzing seit Juni das kleine Stadtteil-Büro "Wöhler 22" in einer Erdgeschosswohnung auf: Sehen, dass hier was los ist, und einfach mal reinkommen. Elf verschiedene Organisationen haben sich schon gemeldet, um Beratungen, ein Frauencafé, niedrigschwellige Sprachvermittlung, Hausaufgabenhilfe oder Kunstprojekte anzubieten. Gerade läuft ein Kurs für Kinder, die kleine Objekte mit Fotos basteln – ein medienpädagogisches Angebot der Stadtbibliothek Kassel. "Wir wollen, dass es verschiedenste kulturelle Angebote auch hier und nicht nur in besser gestellten Stadtteilen gibt", sagt Klinzing.
Ein paar Straßenzüge weiter kicken Jungen verschiedener Altersstufen und ein Mädchen auf einem großen Fußballplatz mit Kunstrasen. Manche üben für sich allein das Dribbeln, andere stürmen in Richtung Tor oder verteidigen den Strafraum. Weil aufgrund von Corona viele Trainingsgruppen ausfallen, können die "Streetbolzer" den Platz zurzeit fast ständig nutzen. "Für die Kids ist das natürlich super", so Mustafa Gündar, der vor vielen Jahren angefangen hat, Fußballturniere auf den öffentlichen Bolzplätzen der Stadt zu veranstalten. Damals beobachtete der Sozial- und Medienpädagoge mit Sorge, dass sich der Balkankrieg in Kassel fortsetzte: Immer wieder gingen albanische, serbische und kroatische Jungengruppen aufeinander los. Auch eines der ersten Turniere musste wegen einer Schlägerei abgebrochen werden.
Die dritte Halbzeit
Doch Gündar schaffte es, bei den Spielen ohne Schiedsrichter eine dritte Halbzeit einzuführen, in der die Mannschaften diskutieren, ob die zuvor verabredeten Regeln eingehalten wurden und die Partie fair abgelaufen ist. Seit zwei Jahren gibt es für seine Arbeit von der Stadt feste Personalmittel. Gewalt ist längst kein Thema mehr. Inzwischen drehen die Jugendlichen auch Filme über ihre Spiele und viele beteiligen sich an Demos gegen Rechts. "Wir sind kein Fußball-, sondern ein Kulturverein. Fußball ist der Türöffner für Demokratie- und Medienbildung", sagt Gündar und verabschiedet sich auf den Platz, um ein bisschen mitzuspielen.
Beim Verein "Bengi" hat die Pandemie die Arbeit hingegen weitgehend lahmgelegt. "Bengi" unterstützt Frauen seit Anfang der 1990er Jahre dabei, sich ökonomisch unabhängig von Männern und Ämtern zu machen. "Unsere Sprachkurse sind monatelang ausgefallen, das ist eine Katastrophe für viele Frauen", sagt Geschäftsführerin Gülsen Akcay. Weil die meisten Teilnehmerinnen keinen Zugang zu Computern und Druckern haben, konnte nichts online stattfinden. Dabei sei für die Integration von migrantischen Kindern nichts so wichtig wie starke, selbstbewusste Mütter, da ist sich Akcay mit vielen Engagierten in der Stadt einig.
Dass nicht alles konflikt- und reibungslos läuft, ist auch klar. Und oft dauert es etwas, bis Neues einen angemessenen Platz in der Stadt findet. Lange haben migrantische Selbstorganisationen, die Ehrenamtsbeauftragte, der Ausländerbeirat, das Freiwilligenzentrum, ein Jugendhilfeträger und viele andere für gemeinsame Räume an zentraler Stelle in der Stadt gekämpft. Schließlich hatten sie Erfolg. Das "All-In" befindet sich an einem hochsymbolischen Ort. Vor dem Haus steht ein Obelisk, ein documenta-Kunstwerk, auf dem in vier Sprachen zu lesen ist:
"Ich war ein Fremdling und Ihr habt mich beherbergt."