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Hoffnungsvoll richtet sich der Blick der Geretteten auf die OceanViking
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Tanguy, früher Soldat und Feuerwehrmann, rettet heute Menschen in Seenot
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Völlig erschöpt ist diese Mutter, die mit ihrem Säugling gerettet wurde
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Auch dieser Mann hat es an Bord der Ocean Viking geschafft
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Auch nachts wird das Meer nach Geflüchteten abgesucht
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Die Sizilianerin Lisa ist eine der Seenotretterinnen auf der Ocean Viking

Ihr allererstes Boot entdeckt Lisa* an einem Sonntag im September. Die Sizilianerin steht auf der Brücke der Ocean Viking, ihre Augen an einem Fernglas. Ohne Unterbrechung schaut sie aufs Wasser. Vom Horizont bis zum Schiff und wieder zurück zum Horizont. Die Oberfläche ist ruhig; sie reflektiert die ersten Sonnenstrahlen des Tages. Dann, gut zwei Seemeilen entfernt: ein Punkt. Lisa informiert die Brücke. Und kurz darauf rauscht es aus Kanal 3 von allen Funkgeräten des 69 Meter langen Schiffes: "Bereit zur Rettung."

Ab diesem Moment haben alle in Lisas elfköpfigem Team eine Funktion. Der 40-jährige Tanguy*, ehemaliger Militär- und Feuerwehrmann aus Frankreich, wird zum Anführer. Der 43-jährige Ralph, ehemaliger Seemann von den Philippinen, wird Fahrer eines Schnellbootes. Und die 28-jährige Lisa, ehemalige Weltenbummlerin, wird zu dessen Crew2. Sie müssen jetzt wie Maschinen funktionieren. Alles kann darüber entscheiden, ob Menschen leben oder sterben. Wie viele Menschen die Ocean Viking, ein von der französischen Nichtregierungsorganisation "SOS Méditeranée" gechartertes Seenotrettungsschiff, erreichen. Doch obwohl die Organisation laut eigenen Angaben bereits über 34.000 Menschen zwischen Libyen und Lampedusa das Leben gerettet hat, sind seit 2014 mehr als 22.700 Migrantinnen und Migranten im Mittelmeer verschollen oder ertrunken. Allein in diesem Jahr waren es bisher über 1.500 Menschen. Rund 1.200 davon im zentralen Mittelmeer. Die Menschen an Bord des Bootes, das Lisa entdeckt hat – sie werden leben.

Hinaus aufs offene Meer

Ein Kran senkt das orange Schnellboot namens Easy1 auf die Höhe des Decks. Tanguy, Ralph und Lisa steigen zu und das Schnellboot wird weiter hinabgelassen. Ralph positioniert sich hinter dem Steuer, Lisa zu seiner Seite. Und vorne auf der Rampe schlingt Tanguy seine Beine um das Geländer. Er wartet auf das Kommando von der Brücke: "Hook off", heißt es, nachdem mehrmals vergeblich versucht wurde, die Behörden zu erreichen. Eine halbe Stunde nach Lisas Entdeckung beschleunigt Ralph die zwei 115 PS starken Motoren, das Schnellboot zieht hinaus aufs offene Meer.

Seit 2014 sind mehr als 22.700 Migrantinnen und Migranten im Mittelmeer verschollen oder ertrunken. Allein in diesem Jahr waren es bisher über 1.500 Menschen.

Das Meer ist still an diesem Morgen, die Sonne geht gerade auf. Durchbrochen wird die Stille lediglich vom Surren der Motoren. Erst laut, dann immer leiser. Dann plötzlich hebt Tanguy seinen linken Arm. Er schwenkt ihn hin und her. Nur noch wenige Meter liegen zwischen ihnen und ihrem Ziel: einem blauen Holzboot mit knapp 30 Menschen an Bord.

"Wir sind hier, um euch zu helfen", sagt Tanguy auf Englisch. "Tut ihr, was ich sage, geht es schnell. Tut ihr das nicht, dauert es lange." Die Erfahrung hat ihn gelehrt: Er muss bestimmend sein, sagen, was zu tun ist. Wo es keine klaren Regeln gibt, gibt es Raum für Hoffnung. Hoffnung kann zu Panik führen und Panik zu Tragödien. Er nennt das den "Submarine Effect". Erst ein möglicher Fluchtweg verleite Menschen dazu, diesen auch nutzen zu wollen. Tanguy hat gesehen, wie sie aus Hoffnung ins Wasser sprangen, wie die Böden ihrer Boote zerbarsten. Trifft er jetzt eine falsche Entscheidung, kann die Spirale ihren Lauf nehmen. Das Meer ist willkürlich. Es kümmert sich nicht darum, ob jemand lebt oder stirbt.

"Reicht mir das Baby." Tanguy gibt jetzt klare Anweisungen. Er zeigt auf die Menschen auf dem blauen Boot. Einen nach dem anderen befiehlt er an Bord der Easy1, wo sie von Lisa platziert werden. Ist das Schnellboot voll, fahren sie zurück zum Mutterschiff. Der Tag, an dem das Baby an Bord der Ocean Viking ankommt, ist der 25. seines Lebens. 32 weitere Gerettete sind bei ihm, darunter 12 Kinder. "Es bricht einem das Herz, die Kinder zu sehen", sagt Lisa. "Was wird in zehn Jahren aus ihnen geworden sein? Sie müssen dieses Trauma noch lange mit sich herumtragen." Was sie nicht erwähnt: Dasselbe könnte sie auch über sich selbst sagen.

Wenn der Notruf zu spät kommt

Wenige Monate zuvor, im April. Eine ganze Nacht lang kämpfte sich die Ocean Viking durch einen Sturm. Gegen Abend hatte sie ein Notruf erreicht: 130 Menschen trieben in einem Schlauchboot vor der libyschen Küste. Obwohl die angegebene Position weit entfernt lag, hatte die damalige Einsatzleiterin Luisa Albera entschieden, den Kurs zu wechseln. Die Wahrscheinlichkeit, rechtzeitig beim Schlauchboot anzukommen, war gering. Doch hätte sie sich anders entschieden, hätte es diese Wahrscheinlichkeit gar nicht erst gegeben. An Bord waren damals auch Tanguy, Ralph und Lisa. Es war ihr erster gemeinsamer Einsatz.

"Ein Mann schwamm an der Oberfläche", erinnert sich Lisa an den Zeitpunkt, als sie beim Schlauchboot ankamen. "Er trug eine Schwimmweste, schaute uns einfach an. Und ich konnte nicht damit aufhören, ihn anzuschauen." Der Sturm hatte das Schlauchboot zerrissen. Kein einziger der 130 Passagiere hatte überlebt. Es war das erste Mal, dass Lisa einen Toten sah, der nicht mit ihr verwandt ist.

Später stand Lisa am Heck des Schiffes. Die Ocean Viking wurde gedreht, die Crew wollte den Toten als Zeugnis der Tragödie bergen und an Land bringen. Das Manöver wirbelte das Wasser auf, "und plötzlich tauchten überall noch mehr Leichen auf – zwei, drei, vier, fünf". Lisa erstarrte und blickte auf die leblosen Körper. Tanguy stellte sich an ihre Seite. "Schau nicht hin", sagte er. Lisa wandte sich ab, doch die Gesichter der Toten blieben drei Tage lang bei ihr. "Sie tauchten einfach auf, beim Zähneputzen, als ich an nichts gedacht habe."

Seenotretter*innen kommen immer wieder an die Grenze des Aushaltbaren. Die Fluktuation ist deshalb groß unter ihnen. Tote zu ertragen, ist Teil ihrer Arbeit. Traumatisiert werden sie alle, doch nicht alle gehen gleich mit diesem Trauma um. "Ich sah ständig sein Gesicht", erinnert sich auch Ralph an seinen ersten Toten vor fünf Jahren. "Ich sah, wie die Luftblasen aus seinem Mund kamen, wie er ertrank und ich nichts tun konnte." Der damalige Captain habe ihn damals, nachdem die Rettungsaktion beendet war, gefragt, wie es ihm ginge. Captain, habe er geantwortet, dieser Mann ist während meines Einsatzes gestorben. Ja, habe der Captain entgegnet, aber 180 andere haben überlebt. "Aber Captain, der Mann ist tot."

Der Umgang mit dem Tod

Heute sagt Ralph, der Prozess, den Lisa durchlebe, sei normal. Auch wenn man sich nie an die Toten gewöhne, finde man einen Umgang damit. Die Crew spricht offen über solche Ereignisse. Und Ralph betet vor dem Schlafengehen. "Danke Gott", sagt er an manchen Tagen, "dass du mich hierher geschickt hast." Er hofft, sein Leben bekomme so einen Sinn. "Danke Gott, aber ein Mensch ist gestorben", sagt Ralph an anderen Tagen. Tanguy hat einen irdischeren Umgang damit. "Ich weiß, was ich verändern kann und was nicht", sagt er. "Ich kann die Menschen nicht wieder leben lassen. Aber ich kann hier sein und mein Team noch besser trainieren." Allerdings war auch für ihn die Erfahrung im April eine besondere.

"Der Vorfall war inakzeptabel", sagt er rückblickend. Nicht wegen der Anzahl der Toten, sondern weil es hätte verhindert werden können. Die eigentlich zuständige libysche Küstenwache wusste vom Notruf. Doch sie unternahm nichts. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex informierte zusätzlich die italienischen und maltesischen Behörden, ebenso alle Boote in der Nähe. Doch es half nichts. "Es ist schwierig, das zu akzeptieren", sagt Tanguy.

Der Vorfall ist symptomatisch für Europas Grenzpolitik: Abschottung um jeden Preis. An Polens Grenze erfrieren aktuell Migranten, während die Welt zusieht. Wie auch kürzlich in Kroatien werden sie dort illegal über die Außengrenze geprügelt. Im östlichen Mittelmeer wurde der Grenzschutz in die Türkei ausgelagert, während in Griechenland Abschreckungslager stehen. Im Westen stehen die hochgerüsteten Zäune der Spanier, im zentralen Mittelmeer haben die Libyer übernommen.

2018 hat Europa die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache intensiviert. Es überließ dem Bürgerkriegsland die Verantwortung über einen großen Teil des Meeres, lieferte Geld, Boote und Informationen. Und zog sich mit den eigenen Schiffen zurück. Die Seenotretter sprechen vom Zusammenbruch des Such- und Rettungssystems, das zuvor von Rom aus koordiniert wurde. Erst kürzlich kursierte erneut ein Video von den Methoden der libyschen Küstenwache. Statt die Migranten zu retten, entschied sie sich dafür, auf sie zu schießen. Tanguy sagt: "Wir hatten auch schon Rettungen, bei denen die Küstenwache in die Luft geschossen hat."

Inzwischen fängt die libysche Küstenwache fast jeden zweiten Migranten ab, der von Libyen nach Italien übersetzen möchte. Sie bringt sie zurück in Internierungslager. Aus diesen zog sich jüngst die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" zurück. Die dortige Gewalt gegen Migranten und die mit damit einhergehenden Risiken für das Personal seien nicht weiter tragbar.

Verpflichtet, Menschen zu retten

"Libyen ist vorbei", sagt Tanguy den 33 Geretteten, als sie an jenem Sonntag im September mit ihrem Schnellboot die Ocean Viking anpeilen. Er verspricht ihnen, sie nach Europa zu bringen. Für dieses Versprechen werden Seenotretter wie er von europäischen Regierungen schon mal als "Taxis der Meere" gebrandmarkt. Doch Tanguy entgegnet, Seenotrettung habe nichts mit Politik zu tun. Es sei eine rechtliche Frage: Das Seerecht und das Völkerrecht verpflichten dazu, Menschen aus Seenot zu retten und in einen sicheren Hafen zu bringen. Dass Libyen kein solcher sicherer Hafen ist, darüber sind sich alle einig – selbst die Europäische Union, die weiterhin mit Libyen zusammenarbeitet. Erst kürzlich versprach sie, weitere Schiffe zu liefern.

An Bord der Ocean Viking angekommen, erhalten die Geretteten Decken, frische Kleidung und Beutel mit Fertignahrung. Die weißen Container des umgebauten Frachtschiffes werden für die nächsten Tage zu ihrem Zuhause. 129 Menschen finden dort ihren Platz, unter ihnen auch Khairi**, ein ehemaliger Diplomat. "Ich hatte einen guten Job", erzählt er. "Ich hatte viel Geld, eine Farm und ein Haus." Doch das reiche Libyen, in dem er und seine Frau Farah**, eine Lehrerin, groß geworden seien, existiere nicht mehr. Das Libyen von heute sei vom Bürgerkrieg zerrissen.

"Die Gewalt ist überall", sagt Farah. "Libyen besteht fast nur noch aus Milizen." Habe sie morgens ihre Stadt Zuwara verlassen, habe sie nicht gewusst, ob sie abends wieder zurückkehre. Dachte sie an die Zukunft, dachte sie daher vermehrt an Fragen wie: Was, wenn die Kinder sich an die Brutalität gewöhnen? Was, wenn sie irgendwann selbst Teil der Brutalität werden? "Ich möchte Kinder, die anständig sind, gebildet und empathisch", sagt sie. Sie sollten ein Leben führen können, auf das sie stolz sind. Doch Bildung sei in Libyen kein Fundament mehr für ein Leben.

Immer wieder habe die Familie daher versucht, die Heimat mit dem Flugzeug zu verlassen. Aber als Libyer ein Visum zu bekommen, sei "unmöglich", sagt Khairi. Also fanden sie andere Familien, die ihre Sorgen teilten. Sie besorgten sich ein Boot und informierten sich über die Navigation auf See. Und eine Nacht vor dem Vollmond in diesem September fuhren die Männer, Frauen und Kinder aus Zuwara zusammen aufs Meer.

Weil es sich richtig anfühlt

"Irgendwann muss man eine gewisse Wut in sich tragen", sagt Tanguy. Was hier passiere, sei einfach nicht fair. Er weiß ganz genau, wie Seenotrettung funktionieren könnte und sollte. Sechs Jahre lang arbeitete er als Seenotretter bei der französischen Armee, hat ab 2016 SOS Méditerranée mit aufgebaut. "Bei der Armee wurde alles getan, um ein Leben zu retten", sagt er. "Brauchte man für eine Person zwei Helikopter, wurden zwei Helikopter besorgt." Hier im zentralen Mittelmeer aber sei man auf sich allein gestellt. "Man tut einfach, was man kann, mit dem, was man hat", sagt er. Und meint damit auch: Man hat immer zu wenig.

Aber mittlerweile hat sich die zivile Seenotrettung professionalisiert. Anfangs wussten Tanguy und sein Team nicht einmal, welche Ausstattung sie brauchen. Inzwischen arbeiten an Bord der Ocean Viking ausgebildete Seeleute. "Wir arbeiten sehr strukturiert", sagt Tanguy. Würden sich die Regierungen und Behörden an die Gesetze halten, wäre ihre Arbeit überflüssig, betont er immer wieder. Weder er, noch Ralph oder Lisa müssten hier sein.

Trotz all der Herausforderungen wollen sie keine Helden sein. Ralph sieht die Seenotrettung als Job, der genug Geld einbringt, um seine Kinder auf den Philippinen durchzubringen. Und Lisa sagt: "Ich tue einfach, was sich richtig anfühlt." Habe man einmal mit dem Retten angefangen, sei es schwierig, wieder damit aufzuhören. "Man merkt, dass man etwas verändern kann." Nicht in der großen Politik, aber im Kleinen auf dem Meer.

Vor wenigen Stunden hat sie ihr erstes Boot entdeckt. Weitere Boote werden folgen, auch mit weniger gutem Ausgang. Mit jeder gelungenen Rettung rückt die nächste Tragödie ein Stück näher. Sie hat es ja schon erlebt. "Das ist reine Statistik", sagt Tanguy. Solange sie alleine hier draußen sind, wird das Sterben weitergehen.

*Seit einem rechtsextremen Angriff auf ihr Hauptbüro in Marseille verzichtet SOS Méditerranée darauf, die vollen Namen ihres Personals zu veröffentlichen.

**Namen geändert

Tödlicher Fluchtweg Mittelmeer

Laut Schätzung der Vereinten Nationen (UN) befinden sich derzeit mehr als eine Million afrikanischer Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa. Ihr Fluchtweg führt sie zwangsläufig über das Mittelmeer. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) haben dort seit dem Jahr 2014 mehr als 15.000 Menschen ihr Leben gelassen. Allein im Jahr 2018 überquerten rund 113.145 Migranten das Mittelmeer, mehr als 2.240 Menschen ertranken. Im Jahr 2021 haben bis Anfang November nach Zahlen der UN bereits weit über 1.000 Menschen – Frauen, Männer und Kinder – ihr Leben im Mittelmeer verloren.