Ausgabe 08/2021
Wo die Angst regiert
Bibliotheksbeschäftigte in Hongkong wurden in den vergangenen Monaten genötigt, alle diktaturkritischen Bücher aus den Regalen zu entfernen, Gewerkschaftsfunktionäre erhielten Hinweise, dass ihre persönliche Sicherheit gefährdet ist – der Druck staatlicher Stellen in der chinesischen Metropole ist unerträglich geworden. Die Folge: Die unabhängigen Gewerkschaften haben sich selbst aufgelöst. Auch viele andere zivilgesellschaftliche Organisationen wie Amnesty schließen ihre Büros in der chinesischen Sonderverwaltungszone. Mehrere zehntausend Bürger*innen haben das Land verlassen und sind nach London gezogen.
Systematisch schafft die chinesische Regierung Meinungs- und Informationsfreiheit in der 7,5 Millionen-Stadt ab. Das widerspricht zwar dem Übergabevertrag von 1997. Damals hatten die Regierungen in London und Peking vereinbart, dass die ehemalige britische Kolonie 50 Jahre lang ihre Gesellschafts- und Wirtschaftsform beibehalten darf. Das Motto dazu hieß: "Ein Land, zwei Systeme". Doch was Demokratie, Versammlungs- und Organisationsfreiheit angeht, hat sich das längst erledigt.
Gewerkschafter im Gefängnis
Grundlage der Unterdrückung ist das sogenannte Gesetz zur nationalen Sicherheit, das der chinesische Volkskongress im Mai 2020 verabschiedet und zwei Monate später auf Hongkong ausgedehnt hat. Es schreibt fest, dass alle Bürger*innen wegen Verbindungen zu "ausländischen Mächten" strafrechtlich verfolgt werden können. Auch die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit Hongkongs zu fordern, ist verboten. Über 150 Menschen wurden festgenommen – darunter Lorie Lai, Vorsitzender der Gewerkschaft der Sprachtherapeuten. Ihm wird vorgeworfen, dass seine Organisation eine "aufrührerische" Comic-Reihe veröffentlicht hat. Auch der Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbands Lee Cheuk Yan landete wegen "Subversion" im Gefängnis, genau wie die 19-jährige Studentin Alice Wong. Sie hatte angeblich Kommiliton*innen angestiftet, die Grundordnung der Volksrepublik China zu untergraben. Inzwischen regiert in Hongkong die Angst. Vieles, was dort geschieht, erinnert an George Orwells Roman "1984".
Noch vor wenigen Monaten waren 90 Prozent der Lehrer*innen in Hongkong bei der HKPTU organisiert gewesen. Die Gewerkschaft hatte sich 48 Jahre lang umfassend für die Interessen der Beschäftigten im Bildungssektor eingesetzt. Dabei ging es gleichermaßen um die Arbeitsbedingungen in den Schulen, eine schülerzentrierte Bildungsreform oder die Demokratie in der Stadt. Darüber hinaus bot die HKPTU ihren 95.000 Mitgliedern umfassende Versicherungs- und Sozialleistungen und Zugang zu Discountern. Im August brandmarkten regierungstreue Zeitungen die Lehrergewerkschaft als "Vaterlandsverräter". Was sonst noch geschah, ist unklar. Ohne weitere Diskussion teilte der Vorstand den Mitgliedern mit, dass die Organisation aufgelöst werde.
Im September ging der Dachverband von 93 unabhängigen Gewerkschaften den gleichen Weg. Weinend bat einer der Vorsitzenden die Mitglieder um Verzeihung, dass die Hongkong Confederation of Trade Unions (HKCTU) nicht weitermachen könne. Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB), dem auch der DGB angehört, protestierte. China habe gegenüber der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) zugesagt, die Arbeits- und Menschenrechte in Hongkong zu respektieren. "Das war ein leeres Versprechen", muss der IGB nun feststellen.
Einfach mundtot gemacht
Besonders stark im Visier der Behörden lag seit Monaten die Gewerkschaft des öffentlichen Gesundheitswesens HAEA, die erst vor zwei Jahren gegründet worden war. Von Anfang an sah sie sich explizit als demokratische Organisation und äußerte sich beispielsweise kritisch über eine staatliche Anti-Corona-Überwachungs-App. Im Februar dieses Jahres wurde die Krankenpflegerin und Gewerkschaftsvorsitzende Winnie Yu festgenommen. Zwar kam sie nach ein paar Monaten auf Kaution frei, darf sich aber nicht mehr politisch äußern, sonst droht ihr Lebenslänglich.
Hervorgegangen war die HAEA aus der Protestbewegung 2019. Damals wollte die Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam per Gesetz Kritiker*innen der Pekinger Politik nach Festland-China ausliefern. Zeitweise demonstrierten dagegen mehr als eine Million Menschen, fast die Hälfte der Unter-29-Jährigen war auf den Straßen. Carrie Lam stoppte daraufhin das Gesetz. Doch der Erfolg währte nur kurz. Mit der aktuellen Welle der Unterdrückung zerstört die chinesische Regierung alle Strukturen, mit denen sich die Hongkonger Bevölkerung organisieren könnte.
Für die deutsche Handelskammer in Hongkong und andere vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte Organisationen ist all das kein Thema. Als Ärgernis gelten nur die strengen Einreiseregeln wegen Corona – schließlich ist die Metropole einer der wichtigsten Handelsplätze in Asien.