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Big Thief: Dragon New Warm Mountain I Believe in You

Man kann im Netz mal nachgucken: Da gibt es Videoclips von der singenden Adrienne Lenker, und wenn man genau hinsieht, kann man das dunkle Loch in einem sonst blendend weißen Gebiss der Sängerin von Big Thief sehen. Der fehlende Zahn rechts oben, der jahrelang aus purer Schludrigkeit nicht ersetzt wurde, war lange ein Thema in Interviews, in denen es sonst um die Musik der Band aus New York ging. Er ist noch heute ein gutes Beispiel für das, was das Quartett so einzigartig macht: Sängerin, Gitarristin und Songschreiberin Lenker und ihre drei Kollegen schaffen eine bisweilen schmerzhaft intime Atmosphäre. Ihre Songs scheinen direkt aus einer gemütlichen Scheune zu kommen und sind einzigartig im modernen Popgeschäft.

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Mit ihrem neuen Album kann man sich besonders viel Zeit lassen, um Lenkers Psyche zu erforschen. Denn – wenn man die ebenso grandiosen Solo-Ausflüge der produktiven Musikerin dazu zählt – ihre achte Platte in nur sieben Jahren ist ein Doppelalbum mit ganzen 20 Songs geworden, für das ursprünglich sogar 45 aufgenommen wurden. Ein weiteres Album steht also bereits für die nähere Zukunft an.

Um abzutauchen in die Welt von Big Thief muss man nicht einmal Englisch beherrschen. Dann mag einem zwar die lyrische Kraft entgehen, dieser beständige Wechsel zwischen psychologischer Tiefenbohrung und hellsichtiger Alltagsbeobachtung. Doch dass Lenker das gesamte Spektrum zwischen Humor und Drama abdeckt, das hört man auch so. Denn dafür gibt es ja diese Musik und diese Stimme. Musik, die am traditionellen Panorama von Folk über Country bis Rock längsspaziert, ohne sie mit Nostalgie zu überziehen; die mit Laut-Leise-Kontrasten spielt, aber vor allem gleichzeitig hingehuscht und mächtig, innig und weiträumig klingen kann. Derweil singt Adrienne Lenker immer ein wenig neben der Spur, brüchig, aber dann doch voll mitreißender Kraft.

Dieser Sound hat dazu geführt, dass alle, Folkrock-Puristen oder Indie-Rocker, Freunde des gepflegten Liedguts oder Anhänger des Hippietraums, Big Thief lieben. Die 30-jährige Lenker ist zum It-Girl der Alternativ-Szene geworden, auf dem neuen Album singt sie einmal: "Wenn ich Unendlichkeit sage, dann meine ich jetzt." Und jetzt, in diesem Moment, sind Big Thief die Band der Stunde. Thomas Winkler

CD, 4AD/Beggars/Indigo

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Quadro Nuevo: Odyssee

Italienische Canzoni, Flamenco, Musette oder Orient, Quadro Nuevo spielt diese Vielfalt nicht nur, sondern reist zu den Originalschauplätzen, um sich das authentische Feeling einzuverleiben. Erfahrungen, die die Erfolgs-Combo seit 1996 in einer unnachahmlichen Mischung aus hoher musikalischer Qualität und mediterraner Leichtigkeit präsentiert. Im Sommer 2021 war das um einige Gastmusiker erweiterte Quartett auf Segeltörn. Inspiriert von alten Mythen und Sagen der griechischen Antike kreuzten die Musiker durch das Tyrrhenische Meer nördlich von Sizilien. Mit dabei: ein Freundeskreis für die pfiffigen Fotos im Booklet – in Rollen wie Odysseus, Ikarus und den Sirenen. Quadro Nuevos stilistisches Spektrum ist wie immer weit gespannt und reicht über schwerelose Bossa Nova, swingenden Jazz bis hin zu sehnsuchtsvollen Balladen und Anklängen an Tango. Im Lockdown vorbereitet, auf See und den Äolischen Inseln erprobt und danach in feinster Studioqualität eingespielt. Eine weltmusikalische Abenteuerreise, mit der es sich aufs Beste in die Ferne träumen lässt.

Peter Rixen

Fine Music GLM/Edel

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Yeanniver: Nackt

Man darf sich nicht täuschen lassen. Es sieht aus wie Rap, es klingt wie Rap, es ballert wie Rap, aber: Ist es wirklich Rap? Kann es sein, dass eine Frau sprechsingend mal eben ankündigt: "Ich ficke jeden"? Darf eine, die als Jennifer Rostock eben noch Punkrock gemacht hat, mal eben mit neuem Namen in den auf Authentizität pochenden HipHop wechseln? Yaenniver kann, sie darf, sie muss vielleicht sogar, denn so stellt sie das testosterongeschwängerte Genre schön auf den Kopf. Indem sie als Frau das Rapper-Mackertum noch einmal ins Karikaturhafte überzeichnet, verwandelt sie den Sexismus in weibliches Empowerment. Sie wettert in MädchenMädchen gegen das Victim Blaming bei sexueller Belästigung, reimt mit Ich setz dir ein Zeichen ein Hohelied auf gesellschaftliches Engagement und meint nicht zuletzt "Ich ficke jeden" tatsächlich wörtlich – und zwar als Ausdruck eines Sex-positiven Feminismus, während im Videoclip nackte Männerärsche wackeln. Fazit: Ja, das ist Rap, denn das Spiel mit Worten, Beats und Images ist die Kunstform, die jede und jeder mit den eigenen Themen füllen soll.

Thomas Winkler

CD, Four Music/Sony