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Die Frage ist berechtigt: Warum ist kein Geld für die Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten da?Foto: Georg Wendt/dpa/picture alliance

ver.di publik: Die Verhandlungen zur Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste laufen. Gab es schon mehr als Gesprächsbereitschaft?

Christine Behle: Wir haben unsere Forderungen vorgetragen und erste Rückmeldungen zu einzelnen Themen bekommen. Leider gab es zu Kernthemen wie zu den Fragen, wie wollen wir die Beschäftigten in den Kindertagesstätten einstufen oder welche Bezahlung die Beschäftigten in der Behindertenhilfe künftig bekommen sollen, nur Ablehnung. Das ist sehr ärgerlich, weil wir einen sehr großen Fachkräftemangel in diesem Bereich haben. Immer weniger Menschen entscheiden sich, diese wichtige Arbeit zu machen und das, obwohl wir immer mehr Bedarf haben. Die Bezahlung spielt eine große Rolle: Sie ist ein großer Hinderungsgrund für Berufseinsteiger*innen, überhaupt in einer Kita anzufangen.

Wurden hauptsächlich die finanziellen Forderungen zurückgewiesen?

Auch das Thema Entlastung stößt bei den Arbeitgebern auf Ablehnung. Bereits vor der Pandemie war das Thema Belastungen eins unserer Hauptthemen. In vielen Kitas gibt es zu viele Kinder und zu wenig Personal. Die Kolleg*innen können sich kaum auf die Arbeit vorbereiten, sind überlastet. Viele flüchten in Teilzeit, was natürlich mit Blick auf die Rente zu Problemen führt. Ähnliches gilt auch für die Sozialarbeit. Wir haben auch dort in vielen Bereichen viel zu wenig Personal. Insbesondere Fälle von Kindeswohlgefährdung sind sehr anspruchsvoll, die Beschäftigten tragen eine große Verantwortung. Entlastung ist für die Beschäftigten dort von zentraler Bedeutung. Weder die Qualität der pädagogischen Arbeit in den Kindertagesstätten kann so beibehalten, noch kann sichergestellt werden, dass im Bereich der Sozialarbeit oder auch der Behindertenhilfe die Beschäftigten wirklich qualitativ anspruchsvolle Arbeit machen können. Aus den letzten Flüchtlingssituationen wissen wir, dass auch der Krieg in der Ukraine Folgewirkungen für Schulen und Kindertagesstätten haben wird. Am Ende des Tages bleibt es bei den Beschäftigten, traumatisierte Kinder und Erwachsenen zu unterstützen und sie zu integrieren. Das muss unsere Gesellschaft erkennen und besser anerkennen.

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Christine Behle, stellvertretende ver.di-VorsitzendeFoto: Christian Jungeblodt

Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände, VKA, hat einer finanziellen Aufwertung schon vorab eine Absage erteilt. Die Gehälter von Erzieher*innen seien seit 2009 schließlich um 61 Prozent gestiegen. Was ist falsch an dieser Argu mentation?

Wenn man das so hört, ist das eine tolle Summe. Aber wir reden über einen sehr langen Zeitraum. Dabei wurden die ganz normalen Entgeltrunden mit einbezogen. Das bedeutet, zwei Drittel der 61 Prozent sind ganz normale Tariferhöhungen, die wir für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst durchgesetzt haben. Diese Summe zeugt von unserer guten Tarifarbeit im Öffentlichen Dienst der letzten Jahre. Was die Aufwertung der Berufe im Sozial- und Erziehungsdienst betrifft, haben wir 2009 und 2015 große Schritte gemacht, aber da sind wir noch lange nicht am Ende der Fahnenstange. Wir wollen, dass Soziale Arbeit sichtbarer wird, denn nach wie vor gibt es eine große Diskrepanz zwischen den sozialen Berufen, die geschichtlich gesehen "Frauenberufe" sind, und den männerdominierten Berufen – auch im öffentlichen Dienst. Unser Ziel ist es, das zu durchbrechen und den Beschäftigten in der Sozialen Arbeit die Anerkennung zu verschaffen, die sie als Beschäftigte in systemrelevanten Berufen verdienen.

Gibt es Forderungen, auf die die Arbeitgeberseite eingegangen ist?

Ja, beim Thema Praxisanleitung. In den Kitas ist die Situation aufgrund des Fachkräftemangels bereits angespannt. Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung erhöht den Druck zusätzlich, weil noch mehr Personal gebraucht wird. Hinzu kommt, dass wie überall im öffentlichen Dienst das Durchschnittsalter der Beschäftigten sehr hoch ist. Viele Erzieher*innen gehen bald in Rente. Beim Thema Ausbildung laufen wir daher bei den Arbeitgebern offene Türen ein. Außerdem gibt es Verhandlungsbereitschaft auch beim Thema Sozialarbeit. Dort geht es ebenfalls in großem Maße um Personalmangel, die Krankheitsquoten bei den Beschäftigten sind hoch. Der Arbeitgeber hat bereits signalisiert, über eine bessere Eingruppierung reden zu wollen. Wir fordern, dass die Sozialarbeiter*innen gleichgestellt werden mit den Ingenieur*innen. Da reden wir in der Einstiegsvergütung von einem Unterschied von 180 Euro im Monat. In den weiteren Entgeltstufen geht das hoch bis zu 280 Euro. Das wäre natürlich ein großer Erfolg, dort auf das gleiche Niveau zu kommen.

Warum ist die finanzielle Aufwertung unbedingt notwendig?

Wenn ich eine Erzieher*innenausbildung mache, dann ist das eine Ausbildung auf Bachelor-Niveau. Davon ist die Vergütung jedoch weit entfernt. Frauenberufe werden in dieser Gesellschaft noch immer ungleich behandelt. Wir haben im Sozial- und Erziehungsdienst 83 Prozent Frauenanteil, allein in den Kitas sind es fast 95 Prozent. Auch wenn wir uns in der gesellschaftlichen Diskussion nach vorne entwickelt haben, was Gleichstellung angeht, sind da noch Restanten, die wir angehen müssen. Es geht um eine echte Gleichstellung mit anderen Berufen, nicht um eine Heraushebung. In Deutschland erleben Industriemechaniker mit einer dreijährigen Berufsausbildung, die Maschinen reparieren, eine höhere Anerkennung als Erzieher*innen, die in der Kita unsere Kinder betreuen und erziehen oder behinderte Kinder fördern. Da läuft, meiner Ansicht nach, etwas schief in der Gesellschaft.

Viele Berufsanfänger*innen kehren ihrem Beruf den Rücken. Viele wollen gar nicht erst in den Sozial- oder Erziehungsdienst. Dabei geht es nicht nur ums Geld. Was ist da los?

Zunächst gibt es nicht genügend Ausbildungsplätze. Das liegt häufig daran, dass die Fachschulen über zu wenig Lehrkräfte verfügen. Die Ursache dafür ist, dass die Hochschulen zu wenig Lehrkräfte ausbilden, weil es an den Universitäten nicht genug Studienplätze für sie gibt. Der Beruf ist unattraktiv und deshalb werden auch die Voraussetzungen, ihn zu ergreifen, nicht ausreichend geschaffen. Wenn wir den Fachkräftemangel beseitigen wollen, müssten wir in der Kette viel früher anfangen: bei den Universitäten und bei den Schulen. Hinzu kommt, dass man für eine fachliche schulische Ausbildung in der Regel keine Ausbildungsvergütung bekommt. Der Beruf ist zwar gesellschaftlich relevant, aber erfährt nicht die nötige Anerkennung. Das schreckt junge Leute ab. Die, die nicht abgeschreckt sind, merken spätestens, wenn sie mit ihrem Beruf anfangen, wie schlecht die Bedingungen sind. Und dazu immer neue, hohe Anforderungen: Inklusion, Integration, Überstunden, Arbeit mit unterschiedlichen kulturellen Milieus, in sozialen Brennpunkten, häufig machen sie die Erfahrung, dass sie quasi die Eltern ersetzen müssen. Viele Kolleg*innen machen das mit großem Enthusiasmus, aber ein Viertel scheidet nach den ersten fünf Jahren aus dem Beruf aus, weil alles zu viel wird und die Rahmenbedingungen so schlecht sind.

In der Pandemie sind die Beschäftigten oftmals nur am Rande mit beachtet worden. Erzieher*innen sind dauerhaft einem Ansteckungsrisiko ausgesetzt, weil die kleinen Kinder noch nicht geimpft werden können. In der Behindertenhilfe zählen viele zu Betreuende zu Hochrisikogruppen, Sozialarbeiter*innen müssen verstärkte Gewalt in Familien und immer mehr depressive Jugendliche auffangen – um nur ein paar Probleme der Beschäftigten zu nennen. Warum erfährt ihre Arbeit noch immer nicht die Wertschätzung, die sie verdient?

Es gibt eine Unsichtbarkeit der Beschäftigten in dieser Branche. Wenn Eltern ihr Kind in der Kita abgeben, dann sehen sie, dass da eine Erzieherin ist, die die Arbeit macht, aber so richtig wahrgenommen wird das nicht. Was da an Arbeit geleistet wird, das ist vielen überhaupt nicht klar. Das hängt aus meiner Sicht damit zusammen, dass der Stellenwert niedrig ist. Heute heißt es immer noch: Wenn du Mutter oder Frau bist, dann hast du das in den Genen, vom pädagogischen Auftrag ist überhaupt keine Rede. Das ist natürlich absurd. Da ist eher Verwahrung im Blick statt pädagogische frühkindliche Bildung. Das müssen wir endlich durchbrechen.

Bisher haben auf der Arbeitgeberseite meist nur Männer über einen Dienstleistungsbereich verhandelt, in dem mehrheitlich Frauen arbeiten. Dieses Mal ist die Verhandlungsführerin der VKA eine Frau. Macht das einen Unterschied?

Ich finde das sehr erfrischend, dass die Verhandlungsführerin eine Frau ist, Karin Welge, Oberbürgermeisterin in Gelsenkirchen und neue VKA-Präsidentin. Sie hat eine gute Art, mit uns umzugehen, was nicht heißt, dass sie nachgibt. Aber das Klima ist ein anderes in den Verhandlungen, deutlich zugewandter, das ist gut. Am Ende kommt es aber auf das Ergebnis an.

Wie verleihen die Beschäftigten jetzt ihren Forderungen weiter Nachdruck?

Wir haben im öffentlichen Dienst selten die Möglichkeit, ökonomischen Druck auszuüben. Wir setzen daher in dieser Runde sehr auf gesellschaftliche, politische Begleitmusik, sprechen die Öffentlichkeit direkt an und bitten auch um Unterstützung. Wir machen viele Aktionen, haben den Equal Pay Day und Internationalen Frauentag genutzt, um öffentlich sichtbar zu sein und klar zu machen, was die Probleme sind. Und wir werden diesmal von diversen Frauenbündnissen unterstützt. Wir haben gleiche Interessen, sehen, dass es darum geht, Frauen- und die gesamte Sorgearbeit aufzuwerten. Das ist auch eine tolle Erfahrung für unsere Kolleg*innen vor Ort, dass sie so eine Unterstützung erfahren.

INTERVIEW: Petra Welzel

Tarifrunde Sozial- und Erziehungsdienste 2022: Zahlen & Fakten

Verhandelt wird für 330.000 Beschäftigte in den Kommunen des öffentlichen Dienstes. Insgesamt sind im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste 1,66 Millionen Menschen beschäftigt, davon 1,4 Millionen Frauen (Stand Juni 2021). Sie alle sind von der Tarifrunde mittelbar betroffen: Viele konfessionelle und andere Träger in dem Bereich haben ähnliche Entgelt- und Arbeitsbedingungen und orientieren sich an den Abschlüssen im öffentlichen Dienst.

Ein Kita-Personalcheck von ver.di hat einen Fehlbedarf von 173.000 Fachkräften ermittelt. Das Deutsche Jugendinstitut hat errechnet, dass bis zum Jahr 2025 bis zu 1,2 Millionen Kitaplätze und über 300.000 Fachkräfte fehlen werden, wenn sich jetzt nicht grundlegend etwas ändert in der frühkindlichen Bildung und Betreuung.

Nahezu 90 Prozent der Beschäftigten empfinden seit Beginn der Corona-Pandemie eine Verdichtung und vollständige Veränderung ihrer Arbeit, 62 Prozent fühlen sich belastet oder extrem belastet, 16 Prozent denken über einen Berufswechsel nach.

Die dritte und vorerst letzte Verhandlungsrunde findet am 16./17. Mai 2022 statt.

Weitere Infos und alle ver.di-Forderungen unter mehr-braucht-mehr.verdi.de.