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Willy Brandt und Monika Wulf-Mathies auf dem SPD-Parteitag der 1986Foto: Hans-Günther Oed/SZ Photo

ver.di publik: Monika, Du bist 1982 im Alter von 40 Jahren zur ÖTV-Vorsitzenden gewählt worden. Du hast Dich gegen einen Mitbewerber, den damaligen stellvertretenden Vorsitzenden durchgesetzt. Die ÖTV war damals die zweitgrößte Gewerkschaft Deutschlands, eine Gewerkschaft, deren Mitglieder zu zwei Dritteln männlich waren. Was glaubst Du, warum bist Du gewählt worden?

Monika Wulf-Mathies: Ich glaube, es lag an zwei Dingen. Einmal haben einige Delegierte damals gesagt, dass die ÖTV nicht nur mit den Mülldeckeln klappern sollte, sondern sich auch gesellschaftspolitisch stärker einmischen müsse. Außerdem sollte die ÖTV Angestellte, neue Gruppen – übrigens zählten dazu auch Frauen – und Beschäftigte im Gesundheitswesen intensiver ansprechen. Dennoch war es ein sehr enges Rennen und das Ergebnis hatte sicher auch etwas mit der Tagesform zu tun. Mein damaliger Gegenkandidat, als stellvertretender Vorsitzender der eigentlich geborene Nachfolger, hatte sich vor allem mit den glorreichen Kämpfen der Vergangenheit beschäftigt, während ich in meiner Rede versucht habe, Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft zu finden.

Heinz Kluncker, langjähriger ÖTV -Vorsitzender und Dein Vorgänger, hat Dich 1976 in den Geschäftsführenden Hauptvorstand geholt, Du warst damals dort die einzige Frau neben sechs Männern. Er hat Dich 1982 auch als seine Nachfolgerin vorgeschlagen. Was hast Du gedacht, als er Dich gefragt hat?

Ich habe gedacht, du kannst nicht immer nur meckern, dass Frauen in Führungspositionen mit der Lupe zu suchen sind – und dann, wenn du eine reale Chance hast, gewählt zu werden, sagen: Muss ich mir das antun?

Du bist drei Mal wiedergewählt worden. Wie hast Du die ÖTV in zwölf Jahren Amtszeit überzeugt?

Wir haben eine Menge an Herausforderungen positiv bewältigt, etwa die Herstellung der Gewerkschaftseinheit nach dem Fall der Mauer. Wir haben offensiv Reformthemen aufgegriffen, zum Beispiel mit Wissenschaftlern eine Schriftenreihe zur Reform des Sozialstaats herausgegeben und mit der ganzen Breite der Ehrenamtler in der ÖTV Zukunftsentwürfe für den öffentlichen Dienst vorgelegt.

Gab es auch Punkte, die nicht optimal gelaufen sind?

Oh ja: Das war zweifellos die Tarifrunde 1992. Wir haben für die Annahme des Ergebnisses nach dem großen Streik nicht die damals in der Satzung nötigen 50 Prozent Zustimmung erreicht und den Streik trotzdem beendet. Da hat es herbe Kritik gegeben und ich habe mich gefragt, sollst du zurücktreten?

"Die Quote gibt ein Signal an Frauen, dass Gleichstellung gesellschaftlich erwünscht ist."

Warum hast Du Dich dagegen entschieden?

Ich war der Meinung, dass es wichtiger ist, die Organisation nicht im Chaos zu hinterlassen, sondern sie wieder in geordnete Bahnen zu führen. Auch war ich überzeugt, dass die Entscheidung, den Streik zu beenden, richtig war, und das Ergebnis sich – objektiv betrachtet – durchaus sehen lassen konnte. Aber wir hatten unterschätzt, wie nötig ein besseres ,Erwartungsmanagement' gewesen wäre, um die emotional aufgeladene Stimmung zu beruhigen. Das Streikende war trotzdem eine Mehrheitsentscheidung. Aber wenn es schwierig wird, schlagen sich eben doch sehr viele in die Büsche, und ich musste allein dafür geradestehen. Das geht einem halt manchmal als Vorsitzende so.

Was machen Frauen in solchen Situationen anders als Männer?

Frauen müssen vor allem durch Argumente führen, weil sie sich weniger auf eine Hausmacht oder auf traditionelle Netzwerke verlassen können. Wenn man auf die Verweildauer der Frauen in Führungspositionen blickt, werden sie sehr schnell wieder ausgeschwitzt von Männerbünden. Deshalb braucht es mehr als eine Alibi-Frau im Vorstand.

Mit Dir als Vorsitzende hat die ÖTV 1986 Förderprogramme für Frauen im Ehren- und Hauptamt verabschiedet. 1991 folgte eine Quotenregelung. Wirkt eine Frau an der Spitze auch als Vorbild?

Ich bin sicher, wenn ich nicht a) als Vorsitzende ein Vorbild gewesen wäre und mich b) massiv dafür engagiert hätte, wäre es dazu nicht gekommen. Man sieht ja, dass keine der großen Gewerkschaften dem Vorbild der ÖTV gefolgt ist, eine weibliche Vorsitzende zu wählen. Erst jetzt müht sich der DGB redlich, das zu ändern. Aber jetzt haben wir 2022!

Was beutet Quote für die Gleichstellung?

Quote heißt immer, dass bisher von Männern ausgeübte Führungspositionen von Frauen besetzt werden. Ich bin eine wandelnde Predigerin für eine Quotenregelung. Und stelle fest, es gibt immer noch diese Männer-Argumente: "Es gibt gar keine Frauen, die das wollen", oder "Es ist doch beschämend, wenn jemand als Quotenfrau gewählt wird". Doch wenn man Abschlusszeugnisse, Studienergebnisse, Examina anschaut, müssten in manchen Bereichen in den Führungspositionen 100 Prozent Frauen sein.

Warum ist die Quote auch heute noch nötig?

Frauen brauchen heute die Quote eher wieder stärker, denn wir erleben ja in etlichen Bereichen Rückschritte, nicht zuletzt durch die Pandemie. Es geht aber nicht nur um Führungspositionen. Es geht auch um Vorbilder. Die Quote gibt ein Signal an Frauen, dass Gleichstellung gesellschaftlich erwünscht ist. Und eine Quotenregelung übt Druck auf Männer aus, die ja meistens noch die Positionen besetzen, sich um Kandidatinnen zu bemühen. Auch Frauen, die zunächst in den unteren Etagen ganz gut vorangekommen sind, brauchen das, wenn sie plötzlich bei besseren und höher bezahlten Jobs an gläserne Decken stoßen.

Wann ist die Gleichstellung erreicht?

Wir haben erst wirklich volle Chancengleichheit, wenn auch mittelmäßige Frauen höherwertige Jobs bekleiden. Bei Männern ist das nie hinterfragt worden.

Welchen Rat gibst Du den Frauen heute?

Wenn es um Karriere geht, muss man zeigen, dass man dazu bereit ist, sich das zutraut. Frauen haben die Neigung, immer erst mal zu fragen, "Kann ich das denn", während Männer sofort sagen, "Ja klar, das mache ich gerne". Man muss bereit sein, ein gewisses Risiko einzugehen, sich aus dem vertrauten Bereich herauszubewegen, neue Wege zu gehen und sich auch weiterzubilden.

Ich habe an vielen Stellen Mentoring-Programme für Frauen unterstützt, damit sie Führungspositionen erreichen können. Aber Frauen müssen auch lernen, sich gegenseitig zu unterstützen und Netzwerke aufzubauen und zu nutzen.

Was hat sich in den vergangenen Jahren verändert?

Heute sind die Bedingungen besser. In vielen Unternehmen spricht sich langsam herum, dass Vielfalt, Diversität nicht nur aus gesellschaftspolitischen Gründen wichtig ist oder weil man gerade keine anderen Bewerber findet. Diversität führt auch zu besseren Produkten und zu größerem Unternehmenserfolg. Es gibt deshalb auch betriebswirtschaftliche Gründe für mehr Frauen in den Vorständen.

Immer wieder wurde Dein Äußeres thematisiert, wie ja auch heute noch bei vielen Frauen. Hat Dich das geärgert?

Als ich zur Deutschen Post/DHL ging und in einer Führungsposition war, trugen Kolleginnen, wenn es denn welche gab, schwarze oder dunkelgraue Berateranzüge. Aber ich mag gerne Farbe und finde auch, dass mir das steht. Außerdem will ich mich nicht verkleiden. Ich habe mich immer über den sogenannten Textiljournalismus aufgeregt. Da wurde berichtet, welchen Rock ich trug, wie hoch die Absätze der Schuhe waren und welchen Schmuck ich bevorzugte – während sich niemand über die mausgrauen Anzüge und die ungeputzten Schuhe der Männer aufregte. Das habe ich auch in Interviews häufig gesagt. Es hat aber auch Journalistinnen nicht davon abgehalten, das zu thematisieren.

Ist diese öffentliche Beobachtung nicht auch eine Belastung?

Wenn man so eine Funktion hat, braucht man schon ein erhebliches Stehvermögen, weil man ständig unter Beobachtung steht. Ich wurde auf der Straße nicht nur von Gewerkschaftsmitgliedern erkannt, sondern gerade auch von Menschen, die Gewerkschaften grässlich finden. Besonders die haben mir immer irgendwelche Ratschläge oder unfreundliche Kommentare hinterhergeworfen.

Als EU -Kommissarin hattest Du eine noch größere Verantwortung

Ich habe das erstaunlicherweise als leichter empfunden. Es wurde gefordert, dass man gut verhandeln konnte, und das hatte ich ja in ÖTV-Zeiten gelernt. Es wurde verlangt, dass man Ideen hat. Ich habe mich immer für Reformen engagiert, von Beginn an: in meiner Zeit im Wirtschaftsministerium über die ÖTV bis hin zur EU-Kommission, in der ich eine Reform der Strukturpolitik auf den Weg gebracht habe. Natürlich war das auch nicht immer leicht, aber es ging nicht ständig an die persönliche Substanz. Die Verantwortung, die ich als ÖTV-Vorsitzende für mehr als eine Million Mitglieder hatte, habe ich als sehr viel belastender empfunden. Das habe ich spätestens 1992 gemerkt, als ich ganz allein für das Tarifergebnis verantwortlich gemacht wurde.

Hat sich die öffentliche Beobachtung heute durch die sozialen Medien verändert?

Die Verrohung der Sprache und die Aggressivität in der politischen Auseinandersetzung hat in einer Weise zugenommen, die beängstigend ist und dazu führen kann, dass immer weniger Menschen bereit sind, sich politisch zu engagieren und etwas für die Allgemeinheit zu tun. Es ist ein Riesenproblem für die Gesellschaft, wenn man sich nicht einmal mehr auf ein Minimum an respektvollem Umgang miteinander verlassen kann.

2018 hast du für den WDR einen Bericht zum Umgang sexueller Belästigung von Mitarbeiter*innen erarbeitet. Darin ist von strukturellem Machtmissbrauch und Diskriminierung die Rede. Die # MeToo-Debatte zeigt, dass der WDR kein Einzelfall ist. Ist Macht immer noch eng mit Geschlecht verbunden?

Solange Männer Machtpositionen innehaben und meinen, sie könnten nicht nur entscheiden, ob eine Frau eingestellt oder befördert wird, sondern sich dann auch mal eben an ihrem Busen oder Po vergreifen oder auch ,nur' sexistische Sprüche loslassen, ist das so. Und da bin ich schon wieder bei der Quote. Deshalb müssen wir mehr tun, damit es weibliche Vorbilder gibt und mehr Frauen über das Schicksal von Frauen mitentscheiden.

Interview: Heike Langenberg

Monika Wulf-Mathies (*17. März 1942)

Nach dem Abschluss ihres Studiums der Germanistik, Geschichte und Volkwirtschaftslehre arbeitete sie erst im Bundeswirtschaftsministerium und dann im Bundeskanzleramt, wo sie unter anderem Reden für Willy Brandt geschrieben hat. 1976 wurde sie in den Geschäftsführenden Hauptvorstand der ver.di-Vorgängergewerkschaft Öffentliche Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV) gewählt, 1982 wurde sie deren Vorsitzende. In ihrer zwölfjährigen Amtszeit erreichte sie unter anderem Arbeitszeitverkürzungen für den öffentlichen Dienst, bei der ÖTV wurden Frauenförderung und Quotenregelung im Haupt- und Ehrenamt eingeführt. Auch die deutsche Wiedervereinigung fiel in ihre Zeit als Vorsitzende.

Von 1995 bis 1999 war sie als EU-Kommissarin für Regionalpolitik zuständig. Von 2001 bis 2008 war sie Zentralbereichsleiterin Politik und Nachhaltigkeit bei der Deutschen Post AG. Sie engagiert sich weiterhin in verschiedenen Stiftungen und Beiräten insbesondere auf kultureller und europäischer Ebene.