Ausgabe 02/2022
Die Liebe und der Suff
Son House: Forever On My Mind
Die Stimme ist alt, aber noch kraftvoll. Abgewetzt und brüchig, aber geradezu irritierend lebendig, wie sie da aus einer weit entfernten Vergangenheit zu uns spricht.
Die Stimme gehört Son House, der 1988 verstorbenen Blues-Legende. Die bislang unbekannten Aufnahmen, die nun aufgetaucht und auf diesem neuen Album erstmals zu hören sind, sind mehr als zwei Jahrzehnte vor seinem Tod entstanden. Aber selbst damals, 1964, als der Sänger und Gitarrist diese acht Stücke bei einem kleinen Auftritt in einer Schule einspielte, war seine Stimme bereits eine aus einer sogar noch weiter zurückliegenden Ära.
Der vermutlich 1902 geborene Edward James "Son" House Jr. hat eine sehr seltsame Karriere gemacht. Immer wieder wird er als "Vater des Delta-Blues" bezeichnet, aber das ist eine wohlwollende Deutung der Geschichte. Als der an seiner Vorliebe für Whiskey und Frauen gescheiterte Prediger in den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit der Gitarre durch den Süden der USA zog, war er im Vergleich zu Zeitgenossen wie Charley Patton oder Robert Johnson bestenfalls eine lokale Berühmtheit in seiner Heimat Mississippi.
Das änderte sich drastisch, als er 1964 von dem Plattensammler, Journalisten und Blues-Historiker Dick Waterman aufgespürt wurde. House hatte seit 20 Jahren keine Gitarre mehr angefasst; hatte sich als Eisenbahnarbeiter durchgeschlagen und musste alle seine Songs neu erlernen. Aber er wurde von der damals boomenden Folk-Szene als so gut wie einziger Überlebender der Gründerjahre des Blues zu Festivals und Fernsehauftritten eingeladen. Die vielen Film- und Tonaufnahmen aus den 60er-Jahren, die es deshalb von ihm – im Gegensatz zu seinen ehemaligen, damals längst toten Kollegen – gab, sorgen dafür, dass die einstige Nebenfigur aus heutiger Sicht wie ein prägender Blues-Heroe erscheint.
Hört man nun die Aufnahme, die bislang in Watermans Fundus versteckt war und auf dem Label von Black-Keys-Frontmann und Blues-Sachwalter Dan Auerbach erscheint, stellt man denn auch fest: So intensiv, wie der damals 62-jährige House, der in seiner Jugend zwei Mal wegen Mordes vor Gericht stand, hier Klassiker wie Death Letter Blues oder den bislang unbekannten Titelsong interpretiert, wie er in seine Stimme den Schmerz einer ganzen Generation zu legen versteht, hat ihm die Geschichte, so bizarr sie auch verlaufen sein mag, doch noch Gerechtigkeit widerfahren lassen. Thomas Winkler
CD, Concord
Renaud García-Fons: Le Souffle Des Cordes / The Breath Of Strings
Renaud García-Fons, der höchst virtuose Meisterkontrabassist, glänzt nicht nur mit einer phänomenalen Technik, sondern spielt sein Instrument, wie man es noch nicht gehört hat: gezupft, na klar, aber auch als virtuoses Streichinstrument, das man ebenso gut für ein Cello oder eine Geige halten könnte. Den Klang der arabischen Laute Oud oder den der indischen Sarangi-Geige versteht er auf ebenso verblüffende Art zu imitieren. Sein neues Album hat der Franzose mit spanischen Wurzeln ausschließlich mit Saiteninstrumenten (Cordes) und einem achtköpfigen Ensemble realisiert. Mit einem Flamenco-Gitarristen, zwei Musikern aus der Türkei auf Kemençe-Kniegeige und Kanun-Trapez-Zither sowie einem Streichquartett. Da erklingt Mediterranes, Barockes, Jazziges Orientalisches und Indisches nebeneinander und ineinander verwoben. Immer getragen vom gegenseitigen Respekt für die Kultur des anderen. Eine ganz außergewöhnliche Kammermusik, die groovt. García-Fons' Atem der Saiten – einfach atemberaubend schön! Peter Rixen
e-motive / Galileo
Wet Leg: Wet Leg
Punk, wie ging das noch mal? Drei Akkorde, zwei Minuten, viel Energie. Wet Leg erfinden das Rad nicht neu, aber sie stoßen es noch mal so an, dass es wieder völlig rund läuft, fast fabrikneu. Wie das Frauen-Duo von der Isle of Wight das hinkriegt, warum ihre erste Single Chaise Longue ein derart massiver Hit wurde? Hester Chambers and Rhian Teasdale klauen sich ein paar abgehangene, zeitlose Versatzstücke aus den vergangenen Jahrzehnten Indie-Rock mit Arschleck-Attitüde zusammen, von den verzerrten Gitarren bis zu den melancholischen Melodien und versetzen sie mit ihrem jugendlichen Charme. In ihren Texten sparen sie nicht mit subkulturellen Anspielungen, die man aber auch nicht alle verstehen muss, denn vor allem erzählen sie recht universell und mit viel Witz aus der Bauchnabelperspektive der Mittzwanziger, oder, wie Teasdale es formuliert, davon, wie es ist "ins Erwachsenenalter hinein zu schlafwandeln". Fertig ist: das neue heiße Ding, das problemlos den Spagat schafft von der Hipster-Bar in Berlin-Mitte bis zur Indie-Disco in der Provinz. Thomas Winkler
CD, Domino Records/Goodtogo