Ausgabe 04/2022
Harald und Maude in Berlin
AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe
Der gewaltige Altersunterschied zwischen Anna und Adrian, einer 60-jährigen Schauspielerin und einem Schüler aus schwierigen Verhältnissen, erinnert an Harald und Maude. Ihre Geschichte wirkt aber komplexer. Obwohl sie ihn als Dieb kennenlernt, lässt sie sich überreden, ihn in ihrer Berliner Altbauwohnung auf eine Schultheateraufführung vorzubereiten. Was die resolute Sprachtrainerin dazu bewegt, bleibt offen, aber ihre Lektionen, die um die Vokale kreisen, vorzugsweise um den Buchstaben A, den der Mensch von sich gibt, wenn er geboren wird, Schmerz und Lust empfindet, wecken Neugier. In einem Moment der Depression reisen die Diva und der gehemmte Junge an die Côte d'Azur. Dort entspinnt sich infolge eines Juwelenraubs ein Krimi à la Hitchcocks Über den Dächern von Nizza, in dem die Liebenden "außer Atem" geraten wie Jean Seberg und Jean-Paul Belmondo in Godards gleichnamigem Klassiker der Nouvelle Vague. Sophie Rois, die neben der für sie typischen Schroffheit eine Verletzlichkeit in ihre Rolle einbringt, macht ihn zum Ereignis. Kirsten Liese
D2022, R: Nicolette Krebitz. D: Sophie Rois, Milan Herms, Udo Kier, Laura Tonke. 105 Min. Kinostart: 16. Juni
Nicht ganz koscher – Eine göttliche Komödie
"Hey Pinguin", sagt der Taxifahrer zu Ben, kaum dass er in Jerusalem angekommen ist. Doch die Begrüßung in der Heiligen Stadt ist nicht der Grund, warum der orthodoxe Jude aus New York gleich weiter reist nach Ägypten. Dort braucht die jüdische Gemeinde dringend einen zehnten Mann, um das nächste Pessach-Fest feiern zu können. Nach allerlei Katastrophen landet Ben in der Wüste Sinai zusammen mit dem Beduinen Adel – ohne brauchbares Gefährt, ohne Orientierung, ohne Wasser. Der Muslim und der Jude müssen sich zusammenraufen, um zu überleben – und so entwickelt sich ein nahezu traditioneller Buddy-Film, der leicht ironisch viel erzählt über Israel, das komplexe Verhältnis der Religionen und Kulturen, aber auch über Diskriminierung und Vorurteile. "Ich rede über Religion, nicht Politik", sagt Ben. "Was ist der Unterschied?", fragt Adel zurück. Man kann monieren, dass das orthodoxe Judentum, das zuletzt mit Unorthodox und Stisl ein beliebtes Serien-Sujet geworden ist, hier allzu pittoresk-skurril gezeichnet ist und viele Probleme ignoriert werden – aber der Film ist eine Komödie, und mit ihrem leisen Humor eine ziemlich gute.
Thomas Winkler
D 2022, R&D: Stefan Sarazin & Peter Keller. D: Luzer Twersky, Haitham Omari u.a. 120 Min. Kinostart: 4.8.22
Willkommen in Siegheilkirchen
Manfred Deix' karikierte mit seinen wunderbaren Hackfressen, die er seit seiner Kindheit zeichnete, Personen des öffentlichen Lebens, aber auch den ganz normalen Nachkriegsspießer. Ihnen begegnen wir in diesem Animationsfilm wieder, repräsentiert durch die Bewohner des konservativen Kaffs in Nieder-österreich, in dem er aufwuchs. Deix selbst war vor seinem Tod 2016 noch an dem Film über seine Kindheit beteiligt: Wie er als "Rotzbua" in den 60ern dem bösartigen Mief von Kirche, Altnazis, Fremdenfeindlichkeit und Bigotterie nur mithilfe seiner entlarvenden, aber sinnlichen Zeichnungen entfloh, ist hier in einen derb-vergnüglichen Hippie-Plot gegossen - mit wogend ani-mierten Busen, knisternden Joints und dem frechen Sinti-Mädchen Mariolina, die mit ihrem Mut zu einem himmlisch spritzigen Finale beiträgt. Jenny Mansch
D/Ö 2022. R: Marcus H. Rosenmüller, S. López Jovert. Drehbuch: M. Deix/M. Ambrosch. 85 Min. Kinostart 7.7.22