Ausgabe 04/2022
Durch die grüne Hölle
Alles, was Leonardo Gomez besitzt, passt in einen Rucksack. "Hier bewahre ich ihn auf", sagt er und kriecht unter ein umgedrehtes Fischerboot am Strand von Necoclí. In einem Kochtopf nebenan sammelt sich schmutziges Geschirr auf Fischkadavern. Aus den Boxen einer Strandbar säuselt eine Frauenstimme: "No tengo miedo de amor", ich habe keine Angst vor der Liebe. "So leben wir", sagt der 30-jährige Gomez. "Nicht weil es uns gefällt, sondern weil wir keine Wahl haben." Sein einziges Ziel – so schnell wie möglich weg von hier, weiter in Richtung USA.
Giftige Schlangen und Paramilitärs
Rund 134.000 Migrantinnen und Migranten brachen im vergangenen Jahr von Necoclí am Golf von Urabá nach Panama auf. Das sind mehr als in den elf Jahren zuvor. Zusammengezählt. Der Weg gilt als eine der gefährlichsten Migrationsrouten der Welt. Er führt bis zu zehn Tage lang durch den Dschungel von Darién. Nur hier wird die Panamericana, die längste mit dem Auto befahrbare Straße, die von Feuerland bis nach Alaska führt, unterbrochen. Reiseführer raten, den Dschungel zu meiden. Wegen der Hitze, der reißenden Flüsse und der giftigen Schlangen. Vor allem aber wegen der Paramilitärs. Immer wieder werden Touristen getötet, die es trotzdem wagen. Manchmal zeugten Skelette am Wegesrand davon, heißt es.
Trotz aller Gefahren könnten dieses Jahr noch mehr Migrant*innen den Dschungel durchqueren. Die Zahlen der Rekordmonate von 2021 werden aktuell zwar noch nicht erreicht. Doch die panamaischen Behörden zählen derzeit über 4.000 Grenzübertritte pro Monat. In den unmittelbaren Vergleichsmonaten des Vorjahres waren es rund viermal weniger. "Es besteht die ernste Sorge, dass die Zahlen sehr stark ansteigen könnten", sagt Michele Klein Solomon, Regionaldirektorin der Internationalen Organisation für Migration der Vereinten Nationen.
Seit Jahren wird der Darién Gap von vielen, die in Richtung USA migrieren wollen, als Route gewählt. Darunter Menschen aus China, Pakistan oder dem Kongo. Sie fliegen erst nach Ecuador, wo sie leicht an ein Visum kommen. Anschließend fahren sie mit Bussen nach Norden zum Dschungelnadelöhr. 2021 waren es vor allem Haitianer*innen, die kamen. Viele von ihnen hatten wegen dem Erdbeben von 2010, der anhaltenden Gang-Gewalt und der politischen Instabilität ihre Heimat verlassen. Sie kamen zunächst in Südamerika unter, wo sie sich ein zweites Leben aufbauen wollten. Doch Chile, eines der Hauptaufnahmeländer, verschärfte bald seine Visabestimmungen. Und mit dem Coronavirus brach die informelle Wirtschaft Lateinamerikas zusammen, der ganze Markt ungeregelter Arbeitsplätze, die überwiegend Migrant*innen besetzten. Viele Haitianerinnen und Haitianer standen wieder vor einem Trümmerhaufen. Es blieb ihnen einzig die Hoffnung, weiter gen Norden zu ziehen und die USA zu erreichen.
Wo die letzte Hoffnung stirbt
Doch vor der Grenze stirbt für die allermeisten schließlich auch der letzte Hoffnungsschimmer. Joe Bidens demokratische Regierung hat nämlich eine vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump eingeführte Verordnung übernommen. Mit dieser können die USA Migrant*innen innerhalb weniger Stunden wieder außer Landes befördern. Seit Pandemiebeginn wandten die US-Behörden die Verordnung bei 1,8 Millionen Menschen an. Die Bilder davon, wie berittene Grenzpolizei am Rio Grande, der Grenze zwischen Mexiko und den USA, Jagd auf Haitianer*innen machten, gingen um die Welt. Schon bald hätte diese Pandemieverordnung auslaufen sollen, doch ein Bundesrichter intervenierte.
Im kolumbianischen Necoclí warteten im zurückliegenden Jahr zwischenzeitlich so viele Menschen auf die Weiterreise durch den Darién Gap in Richtung USA, dass Hausbesitzer der Stadt angestammte Mieter auf die Straße stellten, um die Immobilien teurer an die Durchreisenden zu vermieten. Inzwischen sind es zu einem Drittel Venezolaner*innen, die dort ankommen. Allein in Kolumbien leben schätzungsweise 1,7 Millionen Venezolaner*innen, die vor einer Hyperinflation, einer autoritären Regierung oder Hunger flohen. Esly Carillo ist eine von ihnen.
Mit der Armut im Rücken machte sich die Familie der 47-Jährigen 2016 auf ins Nachbarland. Ihre Situation schien vielversprechend: Ihr Mann fand Arbeit, auch ohne Aufenthaltsgenehmigung. Doch die Kinder konnten nicht eingeschult werden. Als "Veneca", eine abwertende Bezeichnung für venezolanische Migrantinnen, sei Esly Carillo beim Amt beschimpft worden: "Verschwinde von hier!" Zurück in Venezuela stand die Mutter vor der Wahl: Essen kaufen oder die Kinder in die Schule schicken? Für beides reichte das Geld nicht.
Inzwischen sind sie wieder alle in Kolumbien. Seit einer Woche schlafen auch die Carillos wie Leonardo Gomez am Strand von Necoclí. "Viele sprechen vom amerikanischen Traum", sagt Esly Carillo. "Doch für mich ist es der venezolanische Traum." Bis vor Kurzem flogen Zehntausende ihrer Landsleute nach Mexiko, um von dort zu Fuß die Grenze zu den USA zu überqueren. Die US-Regierung intervenierte auch hier: Mexiko erschwerte den Venezolaner*innen auf Druck der USA die Einreise per Flugzeug. Der Weg durch die grüne Hölle des Darién wurde für immer mehr Menschen attraktiver.
Leonardo Gomez sitzt in einem Tanktop und kurzen Hosen neben dem Fischerboot am Strand. Immer wieder blitzt beim Erzählen seine Zahnspange auf. Gomez ist ohne Familie unterwegs. Seine Ehefrau und seine zwei Kinder hat er in Venezuela zurückgelassen, als er nach Chile aufgebrochen ist. "Ich will kein Millionär sein", sagt er. "Aber ich will genug zu essen haben." Es breche ihm das Herz zu wissen, dass es der eigenen Familie am Wesentlichsten fehle. Doch auch in Chile gab es für ihn keine Zukunft. "Die Lastwagen fahren schnell", erinnert er sich an den Weg durch die Atacama-Wüste in Richtung Kolumbien. "Fällst du runter, bist du tot."
Den Bewohner*innen von Necoclí kommen die Migrantinnen und Migranten gelegen, denn mit dem Coronavirus blieben die Tourist*innen fern. Wer von den Migranten genug Geld hat, schläft in einem der Hotels an der Küste. Und wer sich vor Moskitos, Malaria und den Migrationsbehörden schützen möchte, kauft bei Straßenverkäufern Zelte, Insektensprays und eine Hülle für den Reisepass.
Der 61-jährige Pablo, der vor einem Stand an der Küstenstraße sitzt, lebt seit zehn Jahren davon, seine Waren auf den Straßen Necoclís zu verkaufen. "Wir helfen den Migranten", sagt er. Und ergänzt, dass eben alles seinen Preis habe. "Sie profitieren und wir profitieren." Für Matten verlangt er drei US-Dollar, ebenso für Taschenlampen, und für Plastikhüllen zwei US-Dollar. Pablos Bestseller aber sind die Campingzelte. "Im Dschungel regnet es viel", sagt er. "Haben die Migranten kein Zelt, werden sie krank." Für ein Zelt verlangt er zwischen 20 und 30 US-Dollar.
Vorbei an Luxusressorts
Der Weg Richtung Darién führt auf die andere Seite des Golfes von Urabá, nach Acandí oder Capurganá. Die Boote nach Capurganá legen von zwei Molen ab. Eine für Touristen, die andere für Migranten. Venezolaner bezahlen für ein Ticket 50 US-Dollar, Kolumbianer und Touristen 25. Den Bug der Boote ziert ein Schriftzug: "Turismo Responsable". Verantwortungsvoller Tourismus. Geschätzt 120 Millionen US-Dollar sollen die Migrantinnen und Migranten bisher auf ihrem Weg von Necoclí bis zur Grenze zu Panama 2021 ausgegeben haben, errechnet anhand ihrer Anzahl..
"Viele haben Geld", sagt Leonardo Gomez. "Doch was ist mit jenen, die keines haben?" Manchmal, sagt er, sei auch er nicht weit davon entfernt, zum Dieb zu werden. Familie Carillo rechnet für die Reise bis nach Panama mit Kosten von 250 US-Dollar pro Person, insgesamt also 1.000 US-Dollar. Das Geld will sie sich mit Betteln und dem Weiterverkauf von Hygienemasken vor einem Supermarkt erarbeiten. Sobald sie dieses erspart hat, wollen sich die vier Familienmitglieder, die ihren armseligen Schlafplatz nur 50 Meter von der Mole für Migrant*innen entfernt haben, einreihen. Diejenigen, die dort jetzt an Bord gehen, werden eineinhalb Stunden später – direkt nach dem Boot für die Touristen – den Steg von Capurganá erreichen. Ein Fischerdorf mit Tourismus, Palmen und einem karibischen Sandstrand.
Doch in Capurganá existieren zwei Realitäten. Welche man betritt, hängt davon ab, welches Boot man in Necoclí bestiegen hat. Für die Tourist*innen führt der Weg am Ende des Steges nach rechts zum Strand, zu den Restaurants und den Öko-Resorts. Für die Migrant*innen geht es nach links an den Dorfrand und in den Dschungel. "Die Migranten sind praktisch unsichtbar", sagt Darwin García, der Dorfvorsteher von Capurganá, "sogar für uns als Einwohner." Trotz Polizeipräsenz: Im Fischerdorf ist es nicht der Staat, der die Gesetze vorgibt. Es ist der Clan del Golfo. Das vermutlich mächtigste Verbrechersyndikat Kolumbiens kontrolliert zusammen mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell nicht nur schätzungsweise die Hälfte des kolumbianischen Kokainexports, sondern auch den Alltag in Capurganá.
Die Reiseführer der Migranten, die sogenannten "Coyotes", erwarten sie auf einem Platz am Ende des Stegs. "Nach links", sagen sie und diskutieren darüber, wer wen für sich beanspruchen darf. Sie führen alle zu einem Sammelpunkt. Dort unterteilen sie sie in Gruppen von rund 40 Personen.
Über den Todeshügel
Gemeinsam marschieren sie los, durch die von Hügeln und Flüssen durchzogene Dschungellandschaft. Immer wieder legen sie Pausen ein, um auf jene zu warten, die nur langsam vorankommen. Man sagt, der erste und der letzte Tag im Darién seien die schwersten. Am ersten geht es darum, zu realisieren, womit man es zu tun bekommt. Und am letzten Tag darum, den Montaña de la Muerte, den Todeshügel, zu bezwingen. Für 20 US-Dollar pro Person bieten die Coyotes an, die Migranten den Hügel hochzufahren. Die Tour mit den Migranten ist lukrativer für sie als Jobs im Hafen von Capurganá. Das Fischerdorf liegt in einer der ärmsten Regionen Kolumbiens. Schon vor der Pandemie lebten hier mehr als zwei Drittel unter der Armutsgrenze.
Die Coyotes verlangen zwar viel Geld für den Weg vom Dorf in den Dschungel: etwa 150 US-Dollar, je nach Service. Doch sie bieten auch Sicherheit – zumindest bis kurz vor die Grenze Panamas. Coyotes, die es wagen, die Grenze zu überqueren, werden immer wieder wegen Menschenschmuggels vor Gericht gestellt. Sobald die Migranten aber allein unterwegs sind, beginnen die Torturen. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch und erdrückend, die Pfade durch den Darién schlammig und schwer begehbar. Die Ausrüstung aus Necoclí ist ihr Geld nicht wert. Noch vor der Grenze rauben immer wieder schwer bewaffnete Gruppierungen auch das letzte Geld der Reisenden. Und hinter der Grenze werden sie schon mal von maskierten Männern in zwei Gruppen aufgeteilt: Männer auf die eine Seite, Frauen auf die andere. Manche Migrantinnen berichten, von bis zu zehn Männern vergewaltigt worden zu sein.
"Die Situation ist alarmierend", sagt Claudia Paz y Paz von der Menschenrechtsorganisation Cejil. Es seien immer mehr Frauen, die den Darién durchqueren. Und: Rund jeder vierte Migrant am Darién ist minderjährig. Die meisten unter fünf Jahre alt. Diese Gefahren sind auch in Necoclí bekannt: "Die Freundin eines Freundes wurde drei Mal vergewaltigt", erzählt Leonardo Gomez. "Doch sie dachte sich nur: Ich lebe noch. Ich werde es in die USA schaffen."
Zwei Söhne von Esly Carillo haben es bereits dorthin geschafft. Kein halbes Jahr ist es her, als auch sie dort waren, wo die Mutter jetzt ist, wie Leonardo Gomez noch am Strand von Necoclí. Immer wieder riefen die Carillos-Söhne an, auf dem Weg durch Panama, Costa Rica und Mexiko, wo einer von ihnen im berüchtigten mexikanischen Migrantengefängnis Siglo XXIl landete. Erst kürzlich ist auch er in den USA angekommen. Doch trotz der Unterstützung einer Kirche hat er noch immer keine Arbeit gefunden. Er gesteht der Mutter am Telefon, dass er darüber nachdenke, wieder nach Mexiko zurückzukehren. "Also, dann geh' halt zurück", sagt Esly Carillo schnippisch. "Dann gehe ich auch wieder zurück nach Venezuela. Ich lebe hier auf der Straße und habe nichts!" Nichts, nur das Vertrauen, dass Gott schon alles richten werde.
Tatsächlich fehle nicht mehr viel bis zur Überfahrt nach Capurganá, sind sich die Carillos sicher. Doch: Seit ihrer Ankunft in Necoclí vor gut einer Woche haben sie mit zwei befreundeten Familien zusammen gerade einmal zehn US-Dollar verdient. Geht es so weiter, trennen sie fast 4.000 zusätzliche Dollar von der Grenze nach Panama, oder weitere 400 Wochen. Und sollten sie es dorthin schaffen, sind es weitere fast 4.000 Kilometer quer durch fünf weitere Länder bis zu ihrem Ziel. Ihrem venezolanischen Traum.
Ob er wahr wird? Allein im März 2022 verhafteten die US-Behörden 210.000 Menschen an ihrer Südgrenze. So viele wie in keinem anderen Monat der letzten 20 Jahre.
Die Recherche für diese Reportage wurde unterstützt durch den Medienfonds "real21 – Die Welt verstehen".