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Die Fassade des Rathauses von Nancy verändert sich noch bis zum 11. September täglich unter dem Motto "Die schöne Jahreszeit"Foto: Marchi/picture alliance/dpa/MAXPPP

Auf dem eleganten Stanislas-Platz mit seinen hellen, hochherrschaftlichen Gebäuden und den goldverzierten schwarzen Gittertoren herrscht eine entspannte Stimmung, auch an diesem regnerischen Nachmittag im Juni. Beim Treffen mit der Lokalhistorikerin Françoise Ribert geht es nicht um den polnischen Ex-König, dem die Stadt Nancy in Lothringen in Frankreich ihre gute Stube aus dem 18. Jahrhundert zu verdanken hat. Riberts Thema ist das Schicksal der polnisch-jüdischen Arbeiter, die sich seit den 1920er Jahren hier niederließen. Für die "Association des Amis de la Fondation pour la Mémoire de la Déportation" (Verein der Freunde der Stiftung für das Gedenken an die Deportation) bietet sie Rundgänge auf den Spuren der Massenverhaftungen in der NS-Zeit an – fast 1.300 Juden aus Nancy überlebten die Verfolgung nicht.

Heute will Ribert sich auf eine wunderbare Ausnahme inmitten des Grauens konzentrieren, die es so nirgendwo sonst gegeben hat. Sie führt uns in eine Nebenstraße, etwas oberhalb des Platzes und bleibt vor einem unscheinbaren Haus mit geschlossenen Fensterläden stehen. Hier, in der Rue Gustave Simon 33, hatte ihr Großvater, der Altmetallhändler und Fuhrunternehmer Szaja Rubinowicz, ein Lager gemietet. Dort musste er sich im Juli 1942, zusammen mit vielen anderen polnischen Juden, verstecken. Denn damals sollten, wie in anderen großen Städten des Landes, alle ausländischen Juden verhaftet werden – nicht direkt von den deutschen Besatzern, sondern im Auftrag der Vichy-Regierung durch die französische Polizei.

Polizisten warnen vor der Polizei

Polizisten sind es auch, die diesen Plan, zumindest was Nancy angeht, nur zwei Straßen weiter zum Scheitern bringen. In der Rue de la Visitation 3 erinnert nichts mehr daran, dass hinter den vergitterten Fenstern im Erdgeschoss damals die städtische Fremdenpolizei untergebracht war. Ausländer mussten hier regelmäßig ihre Aufenthaltsgenehmigung verlängern lassen. Die sieben Polizisten unter der Leitung des Mittvierzigers Edouard Vigneron kennen viele der jüdischen Familien gut. Nach außen erfüllen die Beamten ihre Pflicht, insgeheim fälschen einige von ihnen Ausweise für Menschen auf der Flucht. Weitergegeben werden die Papiere auch durch eine unterirdische Verbindung zur Schule im alten Klostergebäude auf der anderen Straßenseite, erzählt Françoise Ribert.

Als Vigneron inoffiziell einen Tag vorher erfährt, dass am 19. Juli 1942 eine Razzia gegen ausländische Juden geplant ist, wissen die Polizisten, was das bedeutet. Die Adressen der bedrohten Menschen haben sie in ihren Akten. Viele wohnen nicht weit weg im Viertel Saint-Sébastien am Ende der Rue de la Visitation. Auf der anderen Seite der großen Querstraße Saint-Jean, die heute eine sanft ansteigende Fußgängerzone ist, münden einige der schmalen Straßen, in denen die einfachen Häuserzeilen teilweise erhalten geblieben sind.

Doch nicht nur dort wird schon am 18. Juli 1942 an die Türen jüdischer Familien geklopft. Sechs Polizisten in Zivil laufen quer durch die Stadt, um alle zu warnen. Vigneron bleibt zur Sicherheit im Büro. Die anderen schärfen den Leuten ein, auf keinen Fall zu Hause zu bleiben. Viele kommen bei nichtjüdischen Nachbarn unter und werden später von den Polizisten mit falschen Papieren versorgt. Am nächsten Morgen finden die Verhaftungstrupps fast nur leere Wohnungen vor. Manche, die glauben, für sie gelte eine Ausnahme, fallen den Häschern in die Hände: 32 Erwachsene und 15 Kinder. Mehr als 300 Menschen aber können sich in die unbesetzte Zone in Frankreich retten. Viele davon bringt Szaja Rubinowicz anschließend mit einem LKW in den Süden.

Der Platz der Gerechten

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Ein Foto aus guten Tagen: Die jüdischen Familien Mayer und LévyFoto: Mémorial de la Shoah/Coll. Myriam Guntzburger

Françoise Ribert geht die Rue Saint-Jean ein Stück hinauf und biegt in eine weitere Parallelstraße ein, deren längster Abschnitt nach dem damals umgekommenen Oberrabbiner Haguenauer benannt ist. Ein paar der typischen Mietskasernen stehen hier noch, mit einem Fassadenbild auf der abschließenden Wand, überragt von riesigen Wohnhochhäusern. Nach ein paar Hundert Metern erreichen wir eine etwas ungemütliche Gegend mit einer offenen Fläche, Verkehrslärm und Hochhäusern im Hintergrund. Hierher wurde vor drei Jahren der "Platz der Gerechten" verlegt, der den Judenrettern der Stadt gewidmet ist. Ursprünglich befand er sich näher an den Bahngleisen, neben einem inzwischen abgerissenen Gefängnis. Dorthin, in das Gefängnis Charles III., hatte man viele Juden aus der Stadt zunächst verschleppt und dort wurde auch Edouard Vigneron für drei Monate wegen Dokumentenfälschung inhaftiert.

Der neue Platz, der mit grauen Steinplatten und einigen Bäumchen gepflegt, dennoch nüchtern wirkt, liegt vor einem Fachgymnasium. Zu seiner Einweihung entstand ein Projekt mit der Schule, zu dem auch Recherchen über die früheren Bewohner des Viertels gehörten. Die Lehrer waren zunächst skeptisch, da viele der Schülerinnen und Schüler aus Ländern stammen, die bis heute Juden kaum Wohlwollen entgegenbringen. Doch die Jugendlichen fanden es spannend zu erfahren, wie andere Ausländer früher hier gelebt haben. So wie es aussieht, könnte die Geschichte der sieben Polizisten noch viel Gutes bewirken. "C'est une belle histoire humaine!", sagt Françoise Ribert, eine Geschichte voll Menschlichkeit.

Infos

www.nancy-tourisme.fr

1933-1945.land-of-memory.eu/de/erinnerungsort/gedenkweg-nancy

gedenkorte-europa.eu/content/list/567

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