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Vom Punker zum Denker und Schriftsteller – Leonhard F. SeidlFoto: Katrin Heim

Anfang der Neunzigerjahre. Ein Volksfest in der bayerischen Provinz. Es ist spät in der Nacht. Die Fahrgeschäfte auf dem Kirchweihplatz haben bereits geschlossen, an den Buden wird nichts mehr verkauft. Die Kellnerinnen im leeren Bierzelt räumen die Tische ab. Zwei Jungs stehen sich gegenüber. Der eine, gerade 16 Jahre alt, ist unverkennbar betrunken, der andere – Bulldog genannt – kleiner, blond, breit gebaut, wirkt nüchtern, obwohl er beim Bier ebenfalls ordentlich zugelangt hat. Bulldog fühlt sich provoziert durch das Outfit seines Gegenübers: die Stiefel mit den roten Schnürsenkeln, den Aufdruck des T-Shirts – eine Faust, die ein Hakenkreuz zerschlägt – sowie die Haartracht: einen blauen Irokesen, wie er ihn von den Punks in der Stadt kennt. Ganz offensichtlich hat er es mit einem Linken zu tun. Nach einem kurzen Wortgeplänkel wird er handgreiflich. Es setzt Hiebe und Fußtritte in die Magengrube.

So lässt sich eine Schlüsselszene aus Leonard F. Seidls vor elf Jahren erschienenem und gerade neu aufgelegtem Roman-Debüt "Mutterkorn" wiedergeben. Der 1976 in München geborene und im oberbayerischen Isen aufgewachsene Schriftsteller hatte in den Text viel von dem einfließen lassen, was ihm selbst als junger Punk an rechter Gewalt widerfahren war. Auch weil er mit seiner entschieden antifaschistischen Überzeugung in der damals noch fast uneingeschränkt vom CSU-Filz geprägten Provinz zuweilen ziemlich isoliert da stand.

Sein Äußeres hat sich seitdem merklich verändert. Die bunten, hochtoupierten Haare inmitten des ansonsten martialisch kahl rasierten Schädels sind einem braunen Kurzhaarschnitt auf der hohen Denkerstirn gewichen. Nimmt man die schmale Brille mit Metallfassung hinzu, durch die zwei neugierige, zugewandte, aber manchmal etwas müde wirkende Augen des Mittvierzigers die Welt in Augenschein nehmen, glaubt man fast, einen Studienrat vor sich zu haben. Tatsächlich ist der ehemalige Bürgerschreck heute Vorsitzender der Regionalgruppe Mittelfranken des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ver.di (VS). Seit nunmehr rund fünf Jahren lebt er in Fürth.

Die gewaltfreie Gesellschaft

Am Vorabend der von ihm gemeinsam mit dem Netzwerk "Richtige Literatur im Falschen" organisierten Tagung "Literatur und ökologische Praxis" im Herbst vergangenen Jahres spaziere ich mit ihm durch die Altstadtgassen seiner Wahlheimat. Vor einem schmalen, schindelbedeckten Haus bleiben wir stehen. Darin befand sich die Leihbücherei von Fritz Oerter. Die Arbeiterbildung war ein Hauptanliegen des heute fast vergessenen Anarchosyndikalisten, der eine gewaltfreie und herrschaftslose Gesellschaft anstrebte. Dieser Vision fühlt sich auch Seidl verbunden; daran hat sich seit seinen Tagen als rebellischer Punk wenig geändert. Auf dem Gelände einer ehemaligen Spiegelfabrik lebt er mit Gleichgesinnten in einem selbstorganisierten Wohnprojekt, nur wenige hundert Meter von dem Ort entfernt, wo vor hundert Jahren eine Demonstration von Glasarbeitern durch die Landespolizei brutal aufgelöst wurde. Hier will er gemeinsam mit anderen wachsen und sich weiterentwickeln.

Jede zweite Woche füllt er die Rolle des in Teilzeit alleinerziehenden Vaters einer schulpflichtigen Tochter aus, der zu Hochzeiten der Corona-Pandemie dann auch für das Homeschooling zuständig war. Aber irgendwie findet er immer wieder Zeit, sich neue Aufgabenfelder zu erschließen. Seine literarische Arbeit hat sich ausdifferenziert, erweitert, aber auch an historischer Tiefe gewonnen. Sie führte vom Kreativen Schreiben mit straffällig gewordenen Jugendlichen, über Beiträge in Literatur- und Satirezeitschriften, journalistischen Texten bis zum akribisch recherchierten historischen Roman, der aus der üblichen Konfektionsware des Genres weit hervorsticht.

Durch die Literatur möchte Leonhard F. Seidl Menschen zusammenführen und Grenzen abbauen. Sehr wichtig ist ihm das "Grenzenlos"-Stipendium, ein mittelfränkisch-tschechischer Literaturaustausch. Doch bei allem politischen Engagement: Wenn Seidl schreibt, tut er das nicht als Aktivist, sondern als Künstler. Da mag er noch so viel in Archiven gewühlt und mit Zeitzeugen gesprochen haben. "Ich schreibe Romane und keine Flugblätter", lautet daher der treffende Titel eines über einstündigen Filmporträts, das 2018 über ihn erschien.

Das Schreiben mit der Region verbinden

Seit einigen Jahren befasst er sich vermehrt mit Nature Writing. Was ist damit gemeint? "Wenn ich auf einen Gletscher gehe, und dort fließt sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft in Form des geschmolzenen Gletscherwassers am smaragdgrünen Eis an mir vorbei – dann komm ich nicht umhin, auch zu sehen, dass der Gletscher vor hundert Jahren noch einen Kilometer größer war und aufgrund der Klimakatastrophe viel zu schnell schmilzt."

Recherchereisen und Stipendien haben ihn weit herumgeführt. Nach Kenia beispielsweise oder in den tschechischen Nationalpark Podyí. Gleichwohl gehört er zu jener Sorte von Schriftstellern, deren Schreiben stark mit ihrer Region verbunden ist. Er erzählt Geschichte durch Geschichten, die in der Umgebung stattfinden, in der er lebt oder in der er aufge- wachsen ist. Das zeigt sich auch in der sinnlichen Komponente, die seine literarischen Texte auszeichnet. Der Autor schöpft aus der Fülle aller Sensoren, die dem Menschen als Kultur-, aber auch Naturwesen mitgegeben sind. Als Leser riecht, schmeckt und sieht man mit den Figuren seiner Bücher.

Als Autor hat Seidl bereits eine ganze Reihe von Auszeichnungen und Stipendien erhalten. Zuletzt wurde er Anfang August für ein Förderstipendium des Freistaats Bayern ausgewählt. Im November erhält er den Kulturpreis der Stadt Fürth. "Seine Romane", heißt es in der Begründung des vom Stadtrat eingesetzten Kuratoriums, "erscheinen häufig unter dem Label 'Krimi', stellen sich jedoch bei der Lektüre als sprachlich und formal ambitionierte Sprachkunstwerke heraus."

Neuerscheinung: Leonhard F. Seidls historischer Krimi Vom Untergang

Fürth, die Stadt der Spiegel, im Jahr 1922. Die Tochter des Anarchosyndikalisten Fritz Oerter tritt eine Stelle als Schreibkraft in der örtlichen Spiegelfabrik an. Sie beginnt eine Affäre mit dem Chef, kämpft um ihre Selbstbestimmung und stößt per Zufall auf die Spur eines Plans, mit dem elitäre Kreise um den Geschichtsphilosophen Oswald Spengler die Presse in ihrem Sinne zu steuern versuchen. Leonard F. Seidls jüngster Roman "Vom Untergang" spielt vor dem Hintergrund rechtsextremer Anschläge auf den Kasseler Bürgermeister Philipp Scheidemann, den Zentrumspolitiker Matthias Erzberg sowie den nationalliberalen Außenminister Walter Rathenau. Wir werden versetzt in die Auseinandersetzungen zwischen Anarchisten, Sozialdemokraten und Kommunisten, zwischen Fabrikanten und Arbeitern, links und rechts. Dabei verknüpft der Erzähler die "große Politik" mit einer Perspektive von unten und aus der Provinz, die aus der Nähe betrachtet mindestens genauso interessant und schillernd erscheint wie die Großstadt Berlin.

Leonhard F. Seidl: Vom Untergang. Kriminalroman. Edition Nautilus 2022, 248 S., 18 €