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Ein Demonstrierender von vielen – der Protest gegen die Auslieferung von Julian Assange an die USA reißt nicht ab, im Gegenteil: Er wächstFoto: EPA-EFE/picture alliance

Am 8. Oktober haben 5.000 Menschen eine 2,5 Kilometer lange Menschenkette rund um das britische Parlamentsgebäude in London geformt. Angekündigt hatten sich noch einige mehr, doch die britischen Eisenbahnen standen still an diesem Tag – die bei der RMT-Gewerkschaft organisierten Eisenbahner*innen streikten für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Ein demokratisches Ansinnen, dem der Whistleblower und Journalist Julian Assange sicher zustimmen würde. Aber auch so war die Kette die größte koordinierte Solidaritätsaktion, die jemals in Großbritannien zu seiner Unterstützung stattgefunden hat.

Unterstützung, die Assange dringend nötig hat. Er sitzt im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. In Belmarsh inhaftiert der britische Staat normalerweise Schwerkriminelle und Terrorverdächtige. Assange wartet dort auf seine Auslieferung an die USA, wo ihm ein Hochverratsprozess droht. Insgesamt 18 Anklagepunkte werden gegen ihn erhoben. Die Höchststrafe könnte 175 Jahre Gefängnis bedeuten. Das ist eine Todesstrafe auf Raten. Konservative Kräfte in den USA fordern für ihn sogar ganz offen und direkt die Hinrichtung.

Das Spionagegesetz

Als Rechtsgrundlage dient dafür das Spionagegesetz von 1917. Die Ursprünge dieses Gesetzes liegen im Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg. Gegen die Kriegsbeteiligung der USA gab es damals starke innere Widerstände. Insbesondere die Gewerkschaft "Industrial Workers of the World" (IWW) protestierte lautstark gegen die von den USA forcierte Mobilmachung. Mit dem Spionagegesetz wurde unter anderem verboten, sogenannte "Falschinformationen" über den Krieg zu verbreiten. Sozialist*innen und Gewerkschafter*innen, die nach Inkrafttreten dieses Gesetzes weiter gegen den Krieg agitierten, wanderten oft über Jahre ins Gefängnis.

Ein prominentes Beispiel war Eugene Debbs, Präsidentschaftskandidat der "Socialist Party" und prominenter Gewerkschaftsführer. Das Spionagegesetz wurde gegen ihn angewendet, um ihn für zehn Jahre mit der Begründung zu inhaftieren, er habe mit seinen Reden den "Rekrutierungsprozess" der US-Armee behindert.

"Assanges Verurteilung wäre ein beispielloser Präzedenzfall, der das Zeug hat, eine der wesentlichen Grundlagen investigativer journalistischer Arbeit zu zerstören." Monique Hofmann, Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di

Gegen diese und andere staatlichen Repressalien organisierte die IWW-Gewerkschaft eine große Kampagne für Rede- und Meinungsfreiheit. Das alles ist nicht nur von historischem Interesse. Denn im Kampf um die Freiheit für Julian Assange geht es im Wesentlichen um dieselben inhaltlichen Fragestellungen wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Ist es möglich, Verbrechen der Streitkräfte des eigenen Landes zu skandalisieren? Oder wird dem Staat das Recht zugestanden, derartige Skandalisierung zu kriminalisieren?

Die Enthüllungsplattform

Assange wird verfolgt, weil er auf der unter anderem von ihm 2006 gegründeten Enthüllungsplattform "Wikileaks" geheime Dokumente veröffentlicht hat, aus denen zahlreiche, durch US-Truppen im Irak und in Afghanistan verübte Kriegsverbrechen herauszulesen waren. Große international tätige Medienkonzerne waren anschließend an der Veröffentlichung dieser Dokumente beteiligt. Und seit 2010 ermittelt deshalb die US-Justiz gegen Assange.

2012 flüchtete Julian Assange in die Botschaft des latein-amerikanischen Staates Ecuador in London – zunächst allerdings, um sich einem schwedischen Haftbefehl wegen eines Vergewaltigungsvorwurfs zu entziehen. In der Botschaft konnte er bis 2019 bleiben. Im November desselben Jahres wurden die schwedischen Ermittlungen gegen ihn mangels Beweisen eingestellt.

Zwischenzeitlich erhielt Assange sogar die ecuadorianische Staatsbürgerschaft, die ihm jedoch nach einem Regierungswechsel in Ecuador im April 2019 wieder aberkannt wurde. Kurz darauf wurde Assange von der britischen Polizei festgenommen. Seitdem sitzt er in Haft. Aktuell läuft noch ein Berufungsverfahren über seine Auslieferung.

Die Haftbedingungen

Die Haftbedingungen im Hochsicherheitstrakt machen Assange körperlich und psychisch zu schaffen. "Julian geht es gesundheitlich sehr schlecht, was vor allem an den nach wie vor menschenunwürdigen Haftbedingungen liegt," sagt Monique Hofmann, Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di, die sich seit Jahren für Assanges Freilassung einsetzt. "Es ist nicht klar, wie lange er das noch durchhalten kann, zumal er im vergangenen Jahr bereits einen leichten Schlaganfall erlitten hat."

Im Oktober gab es bezüglich der gesundheitlichen Verfassung von Assange eine weitere drastische Wendung. Wie aus einem am 17. Oktober veröffentlichten und an das britische Justizministerium adressierten öffentlichen Brief von 300 "Ärztinnen und Ärzten für Assange" hervorgeht, wurde Assange bereits am 8. Oktober positiv auf das Corona-Virus getestet. Aufgrund seiner chronischen Lungenkrankheit bestehe für Assange das erhebliche Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs. Die ohnehin schon bestehenden psychischen Belastungen würden noch dadurch erschwert, dass Assange seit Feststellung der Infektion in Einzelhaft sitzen müsse.

Die Ärzt*innen fordern Assanges sofortige Freilassung. Dessen Haftbedingungen bezeichnen sie als psychologische Folter. Diese Feststellung wird auch vom ehemaligen UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, geteilt. Aufgrund erheblicher gesundheitlicher Stressfaktoren bestehe für Assange erhöhte Selbstmordgefahr, heißt es in dem offenen Brief weiter. Und: Die Gefahr würde im Fall einer Auslieferung in die USA noch einmal erheblich gesteigert.

Es scheint, als solle an Assange ein Exempel statuiert werden, damit sich Journalist*innen zukünftig zweimal überlegen, ob sie investigativ an staatlichen Interessen kratzen möchten. "Seine Verurteilung wäre ein beispielloser Präzedenzfall, der das Zeug hat, eine der wesentlichen Grundlagen investigativer journalistischer Arbeit zu zerstören", sagt Monique Hofmann. "Niemand, der im Besitz brisanter Informationen ist, wird sich damit noch an die Öffentlichkeit oder an Journalist*innen wenden, wenn er oder sie fürchten muss, lebenslang im Gefängnis zu landen oder Schlimmeres." Dies sei eine potenziell demokratiegefährdende Situation, sagt die dju-Bundesgeschäftsführerin.

Auch hier besteht eine Parallele zu den Ursprüngen des US-amerikanischen Spionagegesetzes. Mit Blick auf Russland sagt Monique Hofmann: "Weltweit und auch in Europa fahren immer mehr Regierungen einen autoritären Kurs und machen sich zuerst an der Ausschaltung der Pressefreiheit zu schaffen, um die Bevölkerung im Dunkeln halten zu können und dann unbeobachtet weitere Menschen- und Bürgerrechte auszuhebeln." Aktuell sei dies in Russland zu sehen. Dort wandern Menschen für 15 Jahre ins Straflager, nur weil sie in der Öffentlichkeit die russische Invasion der Ukraine als "Krieg" bezeichnen.

Ein Freibrief für andere Staaten

Für Staaten wie Russland wäre es ein Freibrief, "wenn selbst ein Land, das sich zumindest seit der Präsidentschaft von Joe Biden öffentlich laufend auf Demokratie und Menschenrechte beruft und diese einfordert, einen Menschen ins Gefängnis steckt, weil er aufgedeckt hat, dass Soldaten ebendieses Landes Kriegsverbrechen begangen haben und noch dazu dafür bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind", stellt Monique Hoffmann klar. "Gewerkschaften als zivilgesellschaftliche Organisationen und Vereinigungen von großen Teilen der Bevölkerung können diesen Tendenzen etwas entgegensetzen, etwa durch die Organisation großer Protestbewegungen."

Nicht nur staatliche Stellen würden sich durch eine Auslieferung und Verurteilung von Julian Assange bestärkt darin fühlen, gegen investigative Journalist*innen vorzugehen. Auch wohlhabende Privatpersonen und große Konzerne holen zunehmend den juristischen Hammer hervor, um missliebige Öffentlichkeit zu vermeiden. Einschüchterungsklagen gegen Journalist*innen seien ein zunehmendes Problem, "dessen Ausmaße vielleicht viel dramatischer sind, als wir wissen", so Hoffmann. Insbesondere für Whistleblower*innen brauche es auch in Deutschland viel größeren rechtlichen Schutz als bislang.