Ausgabe 08/2022
Anpassen? Aufpassen!
Nein Leute, von Teuerungen oder Erhöhungen kann keine Rede sein. Das war einmal. Was wir heute haben, sind Miet-, Tarif- und Preis-an-pas-sung-en. In dieser instabilen Zeit ist Anpassung das neue Zauberwort. Die Generalfloskel, die zu jeder Gelegenheit passt. So wie früher "Reform", wisst ihr noch? Welche Maßnahme zur Verschlechterung der finanziellen oder sozialen Lage hieß nicht Reform? Immerhin wurde damit noch versprochen, dass die Medizin, obwohl ungenießbar, irgendwann zum besseren Zustand führen würde. Anders heute. Wir wissen es aus dem Biounterricht: Anpassung bedeutet schlicht und einfach Kampf ums Dasein. Entschieden wird nicht über die rosige Zukunft, sondern aufgrund höherer Gewalt – Klima, Krieg, Krise. Oder Fachkräftemangel. Aus letztem Grund will neuerdings der Staat Bayern das Arbeitszeitgesetz kippen. Freilich wäre es schwierig, den Zwanzig-Stunden-Tag als fortschrittliche Reform zu verkaufen. Unwillkürlich kommen einem die vergangenen Kämpfe in den Sinn, vom Achtstundentag zur 35-Stunden-Woche. Wie lässt sich dieses Zurückfallen in Altes begründen? Laut der bayrischen Arbeitsministerin Scharf: "Die Arbeitszeitgesetze müssen an die Lebenswelten der Menschen angepasst werden." Heute arbeiteten viele Beschäftigte länger als gesetzlich vorgeschrieben, von Selbständigen ganz zu schweigen. Und nicht wenige möchten so gern ihr Wochenpensum in drei Tagen erledigen und die Resttage frei haben. Wie man es von ihnen kennt, setzen sich also CSU und Arbeitgeberverbände für Selbstbestimmung ein. Natürlich beteuern sie, dass die Deregulierung der Arbeitszeit "auf freiwilliger Basis" erfolgen soll, nur: Im Biounterricht haben wir aber auch gelernt, dass mit Anpassung ein Selektionsprozess gemeint ist. Nehmen wir einen Personalchef, der zwischen zwei Bewerbern entscheiden muss: Der eine erklärt sich bereit, Zwölfstundenschichten zu machen, der andere nicht. Na, welcher von den beiden wird wohl eingestellt? Durch Selektion können auch Mutationen entstehen, Minderheitserscheinungen werden dominant. Wird die Ausnahme zur Regel, dann haben unangepasste Elemente keine andere Chance, als "auf freiwilliger Basis" außen vor zu stehen. Umgekehrt als angekündigt, würden sich dann die Lebenswelten der Menschen an die Arbeitszeitgesetze anpassen müssen. Guillaume Paoli