Seit der Befreiung von Cherson sind an den Bahnhöfen großer ukrainischer ­Städte Tafeln aufgetaucht, die optisch Bahnhofstafeln ähneln, in Wirklichkeit aber die Eisenbahnstrecken zu Städten zeigen, die in Zukunft noch befreit werden sollen. Am Bahnhof von Kyjiw beispielsweise verkehrt der Zug Kyjiw-­Cherson bereits wieder, Tickets in die zurückeroberte Stadt können an der ­Kasse oder online gekauft werden. Aber die Züge Kyjiw-Simferopol oder Kyjiw-Donezk sind auf der neuen Tafel immer noch dunkel. Die symbolischen Tafeln in den Bahnhöfen sind jedoch von großer Bedeutung. Sie handeln vom Weg, den die Ukraine im letzten Jahr gegangen ist.

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Olha VorozhbytFoto: privat

Am 23. Februar verließ ein Zug die Stadt Cherson mit Passagieren, die nicht wussten, dass sie ein Zugticket in nur eine Fahrtrichtung gekauft hatten, und dass sie erst nach neun Monaten in das ukrainische Cherson zurückkehren würden können. In diesem Jahr erlebte die Ukraine den Verlust von Cherson und anderen Städten und Gemeinden, schaffte es aber auch, einen erheblichen Teil von ihnen zurückzuerobern. Die meisten Branchen in der Ukraine erlebten dasselbe: zuerst ­einen Rückgang und oft eine vollständige Einstellung der Aktivitäten. Bis Ende 2022 war jedoch vieles wiederhergestellt.

Rückkehr ins Arbeitsleben

Der Arbeitsmarkt in der Ukraine folgte in diesem Kriegsjahr dem gleichen Trend. Im Jahr 2021 wies die ukrainische Jobsuchseite work.ua täglich mehr als 90.000 Stellenangebote auf. In den ­ersten Kriegswochen sank die Zahl der angebotenen Stellen auf 6.000, doch ab Mitte März verbesserte sich die Lage mit jedem Wochentag. Im Januar 2023, noch während ich diese Kolumne schreibe, hat die Seite wieder mehr als 56.000 aktu­elle Stellenangebote. Der Markt belebt sich langsam, aber stetig.

Ähnlich war die Situation bei kleinen Unternehmen. In den ersten Kriegsmonaten waren viele Beschäftigte arbeitslos, ­einige wurden entlassen, aber oftmals kehrten diejenigen, die die härtesten ­Monate überstanden hatten, schließlich in ihre Unternehmen zurück. Wenn man sich die internationalen Prognosen anschaut, hat die Ukraine dieses Jahr im Allgemeinen besser überstanden als internationale Experten prognostiziert haben, wenn auch natürlich mit erheblichen Verlusten. So prognostizierte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) im April, dass die Ukraine im Jahr 2022 fast fünf Millionen Arbeitsplätze verlieren werde. Wie die ILO nun mitteilt, ging die Beschäftigung im Laufe des Jahres jedoch nur um die Hälfte der prognostizierten Zahl zurück – um 2,4 Millionen Arbeitsplätze, das sind 15,5 Prozent weniger ­Arbeitsplätze als im Vorjahr.

Derzeit ist der ukrainische Arbeitsmarkt regional stark unterschiedlich. Zum Beispiel erleben die Regionen Luhansk und Donezk eine fast vollständige Zerstörung. Es ist jetzt schon abzusehen, dass die Städte dieser Regionen nach dem Krieg fast von Grund auf neu aufgebaut werden müssen. Gleichzeitig entstanden im vergangenen Jahr fast 20.000 neue Unternehmen in der Region Lwiw, die im Westen an Polen grenzt. Zudem siedelten mehr als 230 Unternehmen aus anderen Regionen in diese Region um. Dank dieser Situation gelang es der Region Lwiw, in diesem schwierigen Jahr Tausende von Arbeitsplätzen zu schaffen.

Trotz schwieriger Wirtschaftslage, Mobilisierung und Migration hat der ukrainische Arbeitsmarkt die pessimistischsten Voraussagen nicht erfüllt. Seine stabile Entwicklung erfordert jedoch eines – den vollständigen Sieg der Ukraine in diesem Krieg. Dann werden auch neue Jobs wie Eisenbahnstrecken auf der symbolischen Tafel des Sieges am Kiewer Bahnhof erscheinen.

Olha Vorozhbyt ist stellvertretende Chef-Redakteurin des ukrainischen Nachrichtenmagazins Ukrajinskyi Tyschden. Seit der Ausgabe 03_2022 schreibt sie regelmäßig für uns ein Update aus der Arbeitswelt in der Ukraine.