Ausgabe 01/2023
Das Vertrauen verspielt
In ihrem Buch "Der Verlust – Warum nicht nur meiner Mutter das Vertrauen in unser Land abhandenkam" beschreibt die Zeit-Journalistin Anita Blasberg, wie Wirtschaftslobbyisten anfingen, die Politik zu bestimmen. Wie nach dem Crash der Banken diese mit Milliarden Euro Steuergeldern gerettet wurden. Das Gesundheitswesen in die Gewinnmaximierung und damit an den Rand des Kollapses getrieben wurde. Wie im Stuttgarter Bahnhof Milliarden und mit ihnen in Teilen die Demokratie mit Wasserwerfern im Einsatz gegen friedlich demonstrierende Menschen versenkt wurden. Wie blind Polizei und Justiz auf dem rechten Auge angesichts der NSU-Morde waren. Wie die Klimawandelleugner sich über Jahrzehnte mit allen Regeln des Vertuschens durchsetzten. Wie überall Vertrauen verloren ging. Blasberg hat mit vielen Beteiligten gesprochen. Sie wollte herausfinden, an welchen "Kipppunkten" seit der deutschen Wiedervereinigung das Vertrauen in Staat und Politik bei vielen verloren ging – und eben nicht nur bei ihrer Mutter.
Frau Imre, das Buch Ihrer Tochter ist in Teilen aus langen Gesprächen mit Ihnen entstanden. Hat das Buch Ihre Sicht auf die letzten 30 Jahre verändert?
CARMEN IMRE: Nein, nicht wirklich. Ich bin ja Zeitzeugin und ein politisch interessierter, auch wacher Mensch. Ich habe all die Entwicklungen, die meine Tochter recherchiert und in ihrem Buch beschrieben hat, ja live verfolgt. Was ich aber eindrücklich fand: wie sich die Dinge beim Lesen zu einem historischen Gesamtbild sortieren, wie lange Linien und Zusammenhänge erkennbar werden.
Frau Blasberg, hat sich Ihre Sicht verändert?
ANITA BLASBERG: Verändert hat sich auf jeden Fall mein Grad der Besorgnis. Was mich bei der Recherche wirklich überrascht hat: Wie stark das Vertrauen nicht nur am Rand, sondern in der Mitte unserer Gesellschaft erodiert ist. Dass eine leitende Klinikärztin aus Hamburg und eine Rentnerin aus Jena, ein linker Finanzexperte und ein ehemaliger Banker sich erstaunlich einig sind: Viele unserer Systeme funktionieren nicht mehr zum Wohl der Gesellschaft. Zu viele politische Entscheidungen orientieren sich an Partikularinteressen und nicht mehr am Allgemeinwohl.
Wie trägt verloren gegangenes Vertrauen zur Spaltung der Gesellschaft bei?
BLASBERG: Wenn immer mehr Menschen das Vertrauen in die Medien, in die politischen Institutionen und die Wissenschaft verlieren, verkleinert sich der gemeinsame Boden, auf dem wir stehen, dann kommen uns die Fakten abhanden. Doch nur wenn wir uns über die Fakten einig sind, können wir Probleme überhaupt diskutieren. Nur wenn wir bereit sind, anderen zu vertrauen, können wir Kompromisse finden. Und genau darauf basiert die Demokratie. Was aber am gefährlichsten ist: Immer mehr Menschen verlieren nicht nur den Glauben an einzelne Politiker – die kann man abwählen. Sondern viele verlieren den Glauben an das gesamte System, was ein Nährboden ist für alle radikalen Kräfte, die die Demokratie als Ganzes abschaffen wollen.
IMRE: Mein Empfinden der letzten 30 Jahre ist, dass wir nach einer stabilen Phase nach der Wiedervereinigung in eine immer schnellere Abfolge von Krisen hineingeraten sind: die Arbeitslosenkrise, die Terrorkrise, die Finanzkrise, die Eurokrise, die Flüchtlingskrise, die Coronakrise und so weiter. Diese Krisen wurden für mich zu einem gewissen Grad von Interessengruppen inszeniert und von der Politik instrumentalisiert. Da habe ich gemerkt, wie bei mir das Vertrauen immer mehr ausgehöhlt, wie meine Euphorie über die Wiedervereinigung aufgezehrt wurde.
Hat Vertrauen in die Politik auch etwas mit dem Alter zu tun?
IMRE: Meine Erfahrung zumindest ist, dass es eine lange Zeit braucht, bis man die Dinge versteht und wirklich begreift, wie kritisch sie sind. Als ich jung war, in den 60er und 70er Jahren, lebten wir in einer der besten Zeiten überhaupt: überall sozialer Aufbruch und Fortschritt. Dann kamen die ersten Krisen, die Globalisierung. Doch erst in den 90er Jahren begriff ich deren Dimension, begann ich wirklich zu sehen, in welcher Realität wir angekommen waren.
BLASBERG: Grundsätzlich aber hat ein Vertrauensverlust nicht unbedingt mit dem Alter zu tun. Nehmen wir etwa die Klimaproteste – da sind es die ganz Jungen, die den Glauben in den Staat verlieren. Das Phänomen zieht sich inzwischen durch alle Generationen, und darüber muss sich die Politik, müssen wir uns als Gesellschaft ernsthaft Gedanken machen.
Das Vertrauen geht allmählich verloren?
BLASBERG: Ja. Es ist ein schleichender Prozess. Vertrauen geht fast nie von heute auf morgen verloren. Es gibt Kipppunkte, an denen es bröckelt. Für mein Buch habe ich versucht herauszufinden, welche Kipppunkte das bei den Deutschen waren.
Welche waren es?
BLASBERG: Die Finanzkrise war für viele so ein Punkt, nicht die Krise an sich, sondern die Tatsache, dass danach kein fundamentales Umsteuern in der Finanzpolitik stattfand, dass kaum Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen und die meisten Verluste sozialisiert worden waren. Viele Menschen haben danach trotzdem wieder Hoffnung geschöpft. Neue Kräfte wie Obama – dachte zum Beispiel meine Mutter – reißen das Steuer jetzt rum. Ihr Vertrauensverlust war also kein linearer Prozess. Vertrauen geschöpft hast du auch 2017 bei Martin Schulz, dem SPD-Kanzlerkandidaten.
IMRE: Das war aber nur eine kurze Zeit.
BLASBERG: Aber du hattest wieder Vertrauen gewonnen.
IMRE: Ja. Ich habe aber sehr schnell gemerkt, wie die Medien einen Politiker hypen und ganz schnell wieder fallen lassen. Von Beginn an hatte ich bei Schulz das Gefühl, hoffentlich geht das gut. Schon vor der Bundestagswahl wurde er dann schlecht geredet, und ich fühlte mich wieder in meinem Misstrauen bestätigt.
BLASBERG: Gelitten hat bei vielen die Hoffnung, dass die Politiker ihrem Reden auch Handeln folgen lassen. Ein Beispiel: Man wusste ja schon sehr lange, dass die Erde sich erwärmt und was dagegen zu tun ist. So ähnlich war das auch im Gesundheitssystem oder im Bildungssystem: Überall hatten und haben wir große strukturelle Probleme, die allerdings nicht angegangen wurden. Du hast mir immer gesagt, das kommt dir so irrational vor, dass die Politik so wenig lernfähig ist, obwohl man es besser weiß und die Pläne auf dem Tisch liegen.
IMRE: Ja, die Interessen der Allgemeinheit sind immer wieder an Interessen von Lobbygruppen gescheitert. Es geht allzu oft nur ums Geld, um Gewinnmaximierung. Ich beschäftige mich seit 20 Jahren intensiv mit den Finanzmärkten, seit Mitte der 90er die ersten großen Investoren auftraten, die Private Equity Fonds. Dann kamen die Hedgefonds dazu, die Investmentfonds. Es ist unglaublich schwierig zu begreifen, wie die funktionieren und was die für einen Einfluss haben.
BLASBERG: Mitte der 2000er hat Franz Müntefering Finanzinvestoren mal als Heuschrecken bezeichnet. Man hat deren Wirken damals durchaus verbal verurteilt...
IMRE: ..., aber nicht gegengesteuert. Es wurde nichts reguliert, es wurde nur noch dereguliert. An der Börse, bei Bankgeschäften, überall. Und immer ging es zu Lasten der Allgemeinheit.
Die Gewerkschaften fordern seit vielen Jahren die Regulierung der Finanzmärkte, ein Ende der Privatisierungen, die Abschaffung der Fallpauschalen im Gesundheitswesen, mehr Personal im öffentlichen Dienst und einiges mehr. Was können die Gewerkschaften noch tun?
BLASBERG: Mir kommt es vor, als hätten sie sich ein stückweit aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Zur Zeit von "Sabine Christiansen" saß immer ein Gewerkschaftsvertreter mit in der Runde – wo sind sie heute? Warum bringen sie sich nicht mehr ein? Ihre Mitgliedermacht ist immer noch gewaltig, ich kenne gerade aus der jüngeren Generation viele, die zuletzt aus Überzeugung eintraten, die sagen, es braucht die Gewerkschaften als gesellschaftliche Kraft. Viele sind dann aber durch die Realität abgeschreckt – wie auch bei den Parteien – weil oftmals in den Ortsgruppen vor allem Ältere sitzen.
IMRE: Die Alten müssten sich mit den Jungen verbünden. Wie auf den Fridays-for-Future-Demonstrationen, dort laufen ja auch die Eltern und Großeltern mit. Der Klimawandel geht uns alle an. Ich finde, da könnten die Gewerkschaften noch mehr kommunikativ vermitteln, appellieren, klar machen, dass die Alten viel Wissen haben, von dem die Jungen profitieren können.
Wie sieht es mit der aktuellen Ampelregierung aus, tut sie genug?
BLASBERG: Sie gibt in jedem Fall viel Geld aus, um die Folgen der Energiekrise abzumildern. Sie versucht auf diese Art Vertrauen zu bewahren oder zu retten. Ich glaube aber, das ist zu kurz gegriffen. Es geht den meisten um mehr – es geht ihnen darum, dass die strukturellen Herausforderungen angegangen werden, die Energiewende etwa. Sie merken, dass viele unserer Systeme am Limit sind: das Gesundheitssystem ist nur das drängendste Beispiel. Die Schulen und Brücken sind marode, bei der Bahn kommt inzwischen jeder dritte Zug zu spät, die Post liefert nicht mehr pünktlich aus. In den Merkel-Jahren hat man all diese Struktur-Baustellen vernachlässigt, auch weil zu oft mit der rein ökonomischen Brille draufgeblickt wurde.
IMRE: Das sehe ich genauso.
BLASBERG: Oder nehmen Sie den Mietmarkt. Wir haben dabei zugesehen, wie sich die Immobilienpreise ins Astronomische gesteigert haben, ohne einzugreifen. Wir werden an den Punkt kommen, wo wir nicht mehr weiter zuschauen können: Ein Drittel der Rentner wird zukünftig nicht mehr als 1.300 Euro Rente zur Verfügung haben, laut neuester Erhebungen. Das ist in vielen deutschen Städten, auch in den Speckgürteln, inzwischen das Mietniveau. Da kommt ein gigantisches Problem auf den Staat zu.
Haben Sie noch Vertrauen in diesen Staat, Frau Imre?
IMRE: Dadurch, dass man seit den 80ern dem Weg "Privat vor Staat" bis in jeden Winkel unseres Lebens gefolgt ist, ist mein Vertrauen in den Staat immer weiter den Bach runtergegangen. Zu oft folgt er jenen wirtschaftlichen Interessen, vor denen er uns eigentlich schützen müsste. Heute ist mein Vertrauen leider bei null.
Die Fragen stellte Petra Welzel