Ausgabe 01/2023
Die zukunftstrunkene Stadt
Am Horizont steigt Qualm aus sechs Kühltürmen. Nicht weit davon entfernt drehen sich Windräder. "Hier sieht man die alte und die neue Welt", sagt Lars Katzmarek – mit Begeisterung. Der 30-jährige LEAG-Betriebsrat steht auf einem Aussichtsturm neben dem ehemaligen Braunkohletagebau Cottbus-Nord. Binnen einiger Jahre soll sich die Mondlandschaft in den größten künstlich geschaffenen See Deutschlands verwandeln, den Ostsee. Noch ist das Gewässer eher ein Tümpel am Rande einer kilometerbreiten Brache. Doch nach der Flutung werden die Cottbusser hier planschen, surfen und Boot fahren – so die Vision. Weit entfernt vom Ufer produzieren schwimmende Photovoltaikanlagen dann enorme Mengen Sonnenstrom. Kaskaden von Wärmetauschern werden installiert sein, die den Temperaturunterschied zwischen Wasser und Luft nutzen, um einen Großteil der Wohnungen in Cottbus zu heizen. Willkommen in der Zukunft.
"Wir waren und bleiben Energieregion", sagt Katzmarek. Die Braunkohleverstromung muss "idealerweise bis 2030" eingestellt sein, so steht es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Dann will die LEAG acht Gigawatt an Erneuerbaren installiert haben, zehn Jahre später sollen es doppelt so viele sein. "Wasserstoffkraftwerke, grüner Stahl, emissionsfreie Busse" – der gelernte Elektro- und Telekommunikationstechniker im Bergbau kommt ins Schwärmen, wenn er an die Zukunftsmöglichkeiten seiner Heimat denkt. Zwar füllt sich der Ostsee langsamer als geplant, weil erst die Spree und Talsperren Wasserzuteilung bekommen. Doch Katzmareks Zuversicht kann das nichts anhaben.
Wehmütig hingegen ist seine Kollegin Silke Butzlaff. Vor zwei Stunden hat sie die Frühschicht beendet, nun sitzt sie in ihrem Wohnzimmer. An den Wänden hängen Fotos von Bergbaumaschinen und einem nächtlich beleuchteten Kraftwerk. Seit sie 16 war, hat sie im Tagebau gearbeitet. "Ich fand es immer schön zu wissen, dass wir das ganze Land mit Strom und Wärme versorgen", sagt die heute 56-Jährige. Bis vor einem Monat hat sie den ältesten Eimerkettenbagger der Region gefahren – nun wird er verschrottet. Zum Abschied haben ihr die Kollegen ein Holzmodell in einem Schwibbogen anfertigen lassen, der über ihrem Fernseher steht. "Mein Baby", sagt sie und lacht. Dass der Wandel kommen muss, sieht sie ein. "Wir können ja nicht stehen bleiben."
Strukturwandel mitten in der Stadt
Das erste unübersehbare Projekt des Strukturwandels im Stadtzentrum von Cottbus ist eine fast 500 Meter lange Halle am Hauptbahnhof. Das Dach ist schon montiert, aber noch kann der Blick zwischen den hohen Betonpfeilern ins Innere schweifen. Hier sollen ab dem kommenden Jahr die neuesten ICE-Züge gewartet und repariert werden. Nach dem Bau einer weiteren Halle werden hier in zwei Jahren 1.200 gut bezahlte Menschen arbeiten, wenn alles nach Plan läuft.
Die Säulen bestehen aus einem in der Region entwickelten klimafreundlichen Beton, der bis zu 30 Prozent weniger CO₂ verursachen soll als herkömmliches Material. So jedenfalls behauptet es ein Video im Infozentrum zum Strukturwandel. Es ist nicht viel los hier. Roland Staude begrüßt einen Rentner, der sich kurz umschaut und schon wieder weg ist. Der Infomanager sagt: "Ich finde cool, was hier passiert. Lange Zeit war nur Abbruch. Die Arbeitslosigkeit lag bei bis zu 25 Prozent. Jetzt versuchen sie frühzeitig, dass die Bergleute neue Perspektiven bekommen." Auch Staude, 61, hat als Schlosser im Tagebau angefangen, später dann im Rückbau gearbeitet, bei einer Speditionsfirma und als Kundenberater der Berliner S-Bahn. "Fast alle meine Kumpels mussten pendeln oder sind ganz weggezogen. Damals wurde alles platt gemacht: Glaswerke, Brikett- und Baumaschinenfabrik."
"Revierwende" im Blick der Beschäftigten
Ein paar Häuserblocks entfernt hat Matthias Loehr sein Büro. Die Wände sind mit Fotomontagen dekoriert: Jede zeigt, wie unterschiedlich ein Ort zu verschiedenen Zeitpunkten ausgesehen hat. "Vor 30 Jahren hat Helmut Kohl blühende Landschaften versprochen – und jetzt wird sich das endlich erfüllen", ist der Leiter des Projekts "Revierwende" überzeugt. Finanziert von Bund und DGB hat sein Team die Aufgabe, die Interessen von Beschäftigten im Blick zu behalten.
Genau das war Anfang der 90er Jahre nicht passiert. Allein Cottbus hat 30.000 Menschen verloren. Dann wurde 2020 das "Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen" beschlossen, in dessen Vorbereitungskommission auch Gewerkschaften und Umweltverbände Sitz und Stimme hatten. Seither herrscht Aufbruchstimmung. Klar, es fließt auch viel Geld. Allein Cottbus kann mit etwa vier Milliarden Euro rechnen, für das gesamte Lausitzer-Braunkohle-Revier in Brandenburg und Sachsen sind 17,2 Milliarden vorgesehen.
Diese Aussichten beflügeln die Kreativität vieler Menschen. Zum Beispiel die von Karsten Horn, dem Projektleiter Strukturwandel der Lausitzer Wasserwerke (LWG). Die LWG will neben ihrer Kläranlage zusammen mit der Universität ein Forschungs- und Demonstrationsfeld aufbauen, damit auch Betreiber kleinerer Anlagen bald Zugang zu neusten Techniken bekommen. Auch bei der Phosphorrückgewinnung aus Klärschlamm wird Cottbus womöglich bald ganz vorneweg sein. In der Antrags-Pipeline steckt außerdem ein Bildungszentrum für Azubis, Studierende und Praktikanten. "Fachkräftesicherung ist das zentrale Zukunftsthema", so Horn, dessen Unternehmen viele Jugendliche für die Brandenburger Wasserwerke ausbildet. Neun Mal kam in den vergangenen Jahren der bundesweit beste Azubi von hier, sagt Horn mit Stolz.
Der Mathematiker Ekkehard Köhler arbeitet seit 17 Jahren an der Technischen Universität mit ihrem grünen Campus. Gerade genießt er zusammen mit einem Kollegen und zwei Studierenden eine Soljanka in der Mensa. "Es gab schon immer viele gute Ideen, aber jetzt erscheint es möglich, sie auch umzusetzen." Beantragt ist ein komplexes Projekt zur künstlichen Intelligenz. "Da ziehen 50 Leute auf dem Campus an einem Strang", berichtet Köhler. Zur Stadtverwaltung und zu den kommunalen Betrieben seien Wege und Drähte kurz. Als misstrauisch erlebt er dagegen seine Nachbarn im Dorf. "Die Lausitz hatte ja lange das Image: Wenn hier keine Kohle mehr abgebaggert wird, dann kommen die Wölfe." Doch seit mit dem ICE-Werk etwas Großes im Stadtbild sichtbar werde, drehe sich auch dort langsam die Stimmung, beobachtet er.
Reallabor Krankenhaus
Groß sind auch die Pläne für das kommunale Krankenhaus. Es soll in gut drei Jahren Universitätsklinik sein und Medizinstudierende ausbilden. Ein Novum in Brandenburg – genau wie der Forschungsschwerpunkt, den es noch nirgendwo gibt: Wie lässt sich eine gute Gesundheitsversorgung in ganz Deutschland sicherstellen angesichts von Fachkräftemangel und Überalterung? "Zurzeit haben die Ärzte ein Monopol bei der Diagnostik und Therapie, aber vieles lässt sich delegieren", ist Geschäftsführer Götz Brodermann überzeugt. Wie können Menschen in Gesundheitsberufen besser zusammenarbeiten und dabei auch digitale Instrumente nutzen, so die zentrale Frage. "Die Lausitz wird Reallabor und Modellregion." Man hört und sieht dem Mediziner seine Begeisterung an.
Er habe sich gleich in das Krankenhaus verliebt, als er 2015 nach Cottbus kam, erzählt er. Das Haus sei in sehr gutem Zustand gewesen, doch in der Region herrschte damals noch eine tiefe Depression. "Jetzt wird Cottbus ein Magnet", ist sich Brodermann sicher. Und das nicht durch reiche Leute von außen wie Elon Musk, sondern durch viele schlummernde Potenziale. 1.600 neue Stellen sollen allein mit der Universitätsmedizin am Carl-Thiem-Klinikum entstehen. Und die Neuen müssen ja auch wohnen und einkaufen, sie brauchen Kitas und Freizeitangebote. Brodermann rechnet damit, dass am Ende doppelt so viele Arbeitsplätze entstehen.
Fast 7.000 Studierende gibt es jetzt schon in Cottbus, 30 Prozent kommen aus dem Ausland. "I love Cottbus", sagt die angehende Aeronautik-Ingenieurin Toktam Mousani aus dem Iran, die seit vier Monaten hier ist. "Das wissenschaftliche Niveau, die Ausstattung und die Umgangsformen an der Uni sind perfekt." Bevor sie herkam, hatte sie ein bisschen Angst, weil sie von vielen Rechten und Neonazis in Cottbus gehört hatte. "Aber ich merke nichts davon und fühle mich hier sehr sicher", sagt die 38-Jährige. Marike Postel ist für ihren Architektur-Master hergezogen. "Als ich zum ersten Mal durch die Stadt lief habe ich gedacht, die ist viel zu groß für die wenigen Menschen", erinnert sie sich. Doch die Betreuung sei sehr gut hier und sie zahle nur 290 Euro für Miete inklusive Energie und Internet.
Mitmachwerkstatt für alle
Am Rand vom Campus steht das kürzlich eröffnete Gründungszentrum Startblock B2 mit rot-weißen Blechlamellen an den Fassaden. In den oberen Etagen gibt es Räume und Beratung für Startups, im Erdgeschoss mit dem quietschgelben Boden findet vieles gleichzeitig statt. Gerade erkundet eine Gruppe junger Menschen 3D-Drucker und Lasercutter, einige Leute sitzen mit ihren Laptops an einem Tischende und diskutieren. "Wir sind eine Kreativ- und Mitmachwerkstatt und offen für alle – Studierende und Gründer, aber auch für Kinder, Rentner und die Zivilgesellschaft", sagt Madlen Groba. Als das COLab vor drei Jahren in einem Einkaufszentrum startete, kamen viele Leute einfach mal vorbei, seit dem Umzug zum Unigelände ist weniger los.
Groba und ihr Team tun viel, um das zu ändern. Regelmäßig finden Führungen sowie Angebote für Schulklassen und Familien statt. Flyer und Plakate machen in der Stadt auf das COLab aufmerksam. Ziel ist, einen Experimentierort zu schaffen, wo sich die Nutzenden gegenseitig unterstützen, anregen und befeuern – und dabei neue Ideen und Prototypen entstehen. Im Keller gibt es fünf Werkstätten mit Maschinen nach neustem Industriestandard: CNC-gesteuerte Blechbiegemaschinen, Schweißgeräte, Tiefziehpressen oder Apparate zur Platinen-Fertigung. Wer gelernt hat damit umzugehen, kann eigenständig werkeln.
Keine drei Minuten zu Fuß entfernt liegt die Zentrale der größten Wohnungsbaugesellschaft der Stadt. Mehr als ein Drittel aller Cottbusser Mieter haben einen Vertrag mit der GWC. "Unser Auftrag besteht darin, Wohnungen für Menschen mit mittleren und unteren Einkommen bereitzustellen", sagt Geschäftsführer Torsten Kunze. 5 Euro kostet der Quadratmeter im Durchschnitt, der Großteil befindet sich in Plattenbauten. Nach der Wende hat die GWC viele Häuser abgerissen, Neubauten waren kaum ein Thema.
Das aber hat sich rasant geändert. Binnen drei Jahren sah sich die Cottbusser Stadtverwaltung mit sechs Mal so vielen Bauanträgen konfrontiert und stockte das Personal deutlich auf. Auch Kunze teilt sich die Geschäftsführung nun mit dem wesentlich jüngeren Architekten Sebastian Herke. "Wir sind eine untypische Wohnungsgesellschaft und unterstützen die Stadt an vielen Stellen", sagt er. So hat die GWC nicht nur den Startblock B2 errichtet und eine moderne Kita gebaut, sondern auch ein großes Bürogebäude modernisiert. Dort fanden die neu angesiedelten Fraunhofer-Institute und zwei Abteilungen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt eine Bleibe.
Herke formuliert, was in der Stadt oft zu hören ist: "Cottbus ist eine Stadt der kurzen Wege." Das bezieht der Architekt sowohl auf die sehr gute Zusammenarbeit mit Verwaltungen als auch auf die Innenstadt, wo er wohnt und arbeitet und auch die Kita und Schule seiner Kinder in ein paar Minuten zu erreichen sind. "Die Stadt ist sehr lebenswert, nur merken das viele Leute erst, wenn sie hier sind", behauptet Herke.
Ödnis am Stadtrand
In der Plattenbausiedlung Sandow am Ostrand der Stadt ist dieses Gefühl allerdings nicht weit verbreitet. "Hier ist wenig los, viele Jugendliche sind arbeitslos, die Politikverdrossenheit groß", sagt ein junger Mann mit Nasenpiercing. Er sucht gerade in einer unbelebten Straße Ansprechpartner für eine Umfrage, mit der der Jugend- und Kulturverein der Siedlung die Wünsche der Bewohnerschaft für einen neuen Treffpunkt herausfinden will. Leicht hat er es nicht. Kaum ein Mensch ist hier zu sehen.
Fast am anderen Ende der Stadt, im westlichen Zentrum, versucht Sebastian Hettchen einen Ort zu schaffen, wo Neuankömmlinge schnell Anschluss finden sollen. Zusammen mit anderen will der 44-jährige Architekt ein riesiges Kornlager aus der NS-Zeit neben den Bahngleisen zu einem offenen Zentrum für Kunst, Kultur und echte Beteiligung umgestalten. Noch sieht das mehrstöckige Gebäude mit den kaputten Fensterscheiben unwirtlich aus. Doch Reste von einer Bar aus dem vergangenen Sommer zeugen davon, dass hier schon gefeiert wurde.
"Beim Strukturwandel stehen immer die neuen Arbeitsplätze im Vordergrund, aber es gibt hier gar nicht genügend Leute dafür", sagt Hettchen, der sich auch bei den Architects-for-Future für Klimaschutz engagiert. Um junge, fitte Menschen anzulocken, müsste die Stadt auch eine gute Atmosphäre bieten – neben den vielen attraktiven beruflichen Perspektiven, die es jetzt ohne Zweifel gibt.
Die Optimisten
Beim Neujahrsempfang am 11. Januar in der Stadthalle mit hunderten Gästen, singt der Chor PopKon das Lied "Optimist". Auch hier steht die Zukunft der Stadt im Zentrum. In einem kurzen Film, der gezeigt wird, verwandelt sich die riesige Brache des früheren Militärflughafens Cottbus-Nord innerhalb von Sekunden in einen "Science Park". Vorbild ist Berlin-Adlershof, wo es kaum noch Platz gibt für neue Unternehmen und Forschungsinstitute. Dann tritt Oberbürgermeister Tobias Schick ans Mikrofon und sagt, er habe "richtig Bock" auf die vielen Herausforderungen.
Im Sommer gewann der SPD-Mann die Stichwahl klar gegen seinen AfD-Konkurrenten – doch auch der sammelte knapp ein Drittel der abgegebenen Stimmen ein. "Reden wir gut über unsere Stadt", ruft Schick in den Saal und beendet seine Rede mit einem "Glückauf", dem Gruß der Bergleute. Anschließend stürzt LEAG-Betriebsrat Lars Katzmarek auf die Bühne, hopst hin und her und rappt: "Zusammen was bewegen, zusammen etwas bauen, hier in unserer Stadt – Boomtown." Ohne Frage – Cottbus boomt.