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Eine Erzieherin kann heute kaum noch alle Kinder im Blick behaltenFOTO: DEEPOL / PLAINPICTURE

ver.di publik: Elke, wie nimmst Du die Situation derzeit in den Kitas wahr?

Elke Alsago: Sie ist hochdramatisch und wird immer schlimmer. Keine Berufsgruppe in Deutschland ist so oft an Corona erkrankt wie Erzieher*innen. Alle Kolleg*innen hatten mindestens einmal Corona, viele sogar mehrfach. Und: Keine andere Berufsgruppe erkrankt heutzutage so oft am Burnout wie Erzieher*innen. Die Kolleginnen und Kollegen sind also total ausgebrannt, die prekäre Situation nimmt immer mehr zu.

"Keine andere Berufsgruppe erkrankt heutzutage so oft am Burnout wie Erzieher*innen."

Das hört sich wenig attraktiv an.

Hinzu kommt, dass wir viel zu wenig Erzieher*innen haben, um die anfallende Arbeit zu leisten. Wir haben unsere Kolleg*innen 2021 nach der Personalsituation gefragt. Im Durchschnitt fehlen heute drei Fachkräfte pro Kita, das ist ein pädagogisch begründeter Fehlbedarf von 172.782 Fachkräften.

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Dr. Elke AlsagoFoto: privat

Hätten wir genug Personal in den Kitas, wenn wir die jetzt ganz schnell ausbilden?

Nein. Denn das deckt nicht die Wünsche der Eltern, die noch obendrauf kommen. Die hat die Bertelsmann Stiftung im Oktober 2022 erfragt. Danach fehlen bundesweit 383.600 Kita-Plätze und damit 98.521 Fachkräfte, um die Betreuungswünsche aller Eltern zu erfüllen. Rechnen wir also den derzeitigen Mangel und die Wünsche der Eltern zusammen, fehlen grob geschätzt bundesweit 270.000 Erzieher*innen, allein in den Kitas. Der zusätzliche Bedarf an den Schulen ist da noch gar nicht eingerechnet.

Das heißt?

Ab 2026 haben alle Kinder ab der ersten Klasse einen Rechtsanspruch auf ganztägige Bildung und Betreuung. Dafür brauchen wir dann zusätzliche 100.000 Fachkräfte.

Was sind die Ursachen für diesen krassen Fachkräftemangel?

Es ist gesellschaftlich und politisch gewollt, dass Frauen und Männer möglichst gleichberechtigt ihre beruflichen Ziele erreichen können. Wenn die Eltern arbeiten, müssen die Kinder aber außerhalb der Familie betreut werden. Bund und Länder haben daher 1996 den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für Drei- bis Sechsjährige beschlossen und 2013 den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz eingeführt, aber weder das nötige Personal ausgebildet noch den Beruf so attraktiv gemacht, dass sie diesen Rechtsanspruch erfüllen können. Unsere Kolleginnen und Kollegen baden das jetzt aus.

Wie gehen die Erzieher*innen damit um?

Wir haben immer weniger Personal bei immer mehr Bedarf und gleichzeitig immer mehr Krankheit und persönlicher Überbelastung. Die Kolleg*innen wollen sich für ihre Kita-Kinder stark machen und beuten sich so lange aus, bis sie nicht mehr können. Dann fallen sie für einen langen Zeitraum mit Burnout aus oder verlassen den Beruf.

Was macht die Kita-Leitung dann?

Die Leiter*innen reduzieren in Absprache mit ihrem Träger ihre Öffnungszeiten. Inzwischen schließen sie früher, bei mir in Niedersachsen machen viele jetzt um 13:30 Uhr zu. Die Kinderbetreuung übernehmen wie in der Pandemie natürlich in der Regel die Mütter. Die reduzieren dann wieder ihre Arbeitszeit, um nachmittags die Kinder zu betreuen.

Da beißt sich dann ja die Katze in den Schwanz. Gibt es überhaupt eine Lösung?

Klar, die gibt es. Andere Länder haben verstanden, dass eine gute frühkindliche Bildung das Fundament einer funktionierenden Gesellschaft ist. Da werden die Erzieherinnen bezahlt wie Grundschullehrerinnen, zum Beispiel in Skandinavien, in Holland oder Teilen Italiens.

Wie nimmst Du die gesellschaftliche Wahrnehmung hier wahr?

Politik und Gesellschaft sehen die Kita viel zu oft noch als Fürsorge für unterprivilegierte Familien, als Ausgleich für nicht funktionierende Familien. Wir haben das über Jahrzehnte als Armen-Fürsorgebereich gesehen und den Bereich nicht gut ausgestattet. Das ist bis heute noch so. In Berlin werden schon Auszubildende auf den Fachkräfteschlüssel angerechnet. Man erkennt die Leistung ausgebildeter Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen einfach nicht an. In NRW gibt es Alltagshelferinnen, die helfen eben ein bisschen in den Kitas. Man könnte sagen, dass frühkindliche Bildung das Fundament für eine gute Ausbildung unserer Kinder ist und die Bildungsarbeit in der Kita eine Arbeit für gut Qualifizierte sein muss. Stattdessen wertet man sie ab.

Wie lösen wir die Situation jetzt?

Wir fordern als ver.di-Bundesfachgruppe ein Moratorium. Bund, Länder und Kommunen müssen sagen, wie sie das bestehende System stabilisieren wollen. Wir brauchen einen gesamtgesellschaftlichen Blick mit einem Mix von Maßnahmen. Man kann die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht den Kindertagesstätten allein überlassen. Hier sind auch die Arbeitgeber der Eltern gefragt.

Interview: Jörn Breiholz