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Favela-Complex Maré, eine der größten Armensiedlungen Rio de Janeiros
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2014 zur Fußballweltmeisterschaft besetzte das Militär die MaréFoto: Sergio Moraes/Reuters
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Simone Lauar, 45, Journalistin, Aktivistin und Lula-Unterstützerin
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Foto: Silvia Izquierdo/AP/dp
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Kevin Vicente de Almeida, 29, Anwalt und Bolsonaro-Anhänger
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Foto: Leo Correa/AP/dpa

Am 30. Oktober 2022 saß Simone Lauar vor dem Fernseher. So wie Millionen Brasilianer*innen. Nervös sei sie gewesen, am Tag der Stichwahl. Es kam zum großen Showdown zwischen zwei Männern und zwei Vorstellungen über die Zukunft des Landes. Luiz Inácio "Lula" da Silva gegen Jair Messias Bolsonaro. Ein Sozialdemokrat gegen einen Rechtsradikalen. Ex-Gewerkschafter gegen Ex-Militär.

Lauar, 45, eine schwarze Frau mit blondgefärbten Dreadlocks, wohnt im Herzen des Favela-Complex Maré, eine der größten Armensiedlungen Rio de Janeiros. Dort ist sie als Aktivistin, Journalistin und Gründerin einer Initiative für psychische Gesundheit aktiv. Und sie hat Wahlkampf für Lula gemacht, mit Erfolg. Der linke Politiker gewann die Stichwahl, heute ist er Präsident. Nur: Viele ihrer Nachbar*innen stimmten für Bolsonaro. Der Riss, der Brasilien bis heute in zwei unversöhnliche Lager spaltet, läuft auch durch ihre Favela.

Die Geschichte vieler Brasilianer*innen

Der Complexo da Maré ist eine Ansammlung von insgesamt 16 Favelas im Norden Rio de Janeiros. Eingequetscht zwischen zwei Verkehrsadern leben hier rund 140.000 Menschen auf wenigen Quadratkilometern. Im Inneren des Backstein-Wirrwarrs sieht es so aus wie fast überall im Randgebiet brasilianischer Städte: kleine Geschäfte, Fitnessstudios, Spelunken, evangelikale Kirchen. Lauar sitzt in einer der Bars, schlürft Cola. Ohrenbetäubende Musik dröhnt aus ein paar Boxen, Motorräder knattern vorbei. Warum sie Lula unterstützt habe? "Er weiß, was es heißt, in Armut zu leben."

Lulas Geschichte ist die Geschichte vieler Brasilianer*innen. Als siebtes Kind einer armen Familie wuchs er im Sertão auf, dem trockenen, von Hunger geplagten Hinterland im Nordosten. Lula war sieben, als seine Mutter ihre Habseligkeiten packte und sich mit ihren Kindern auf die Ladefläche eines klapprigen Lastwagens setzte. Nach 13 Tagen Fahrt kamen die Hochhäuser der neuen Heimat São Paulo in Sicht.

Als kleiner Junge verkaufte Lula Kekse aus Maniokmehl, sah nur für kurze Zeit ein Klassenzimmer von innen. Mit 14 fing er an, als Dreher in einer Kupferfabrik im Industriegürtel São Paulos zu arbeiten. Und weil er redegewandt war, brachte er es schnell zum Führer der Metallarbeitergewerkschaft, organisierte Streiks, hielt flammende Reden vor Werkstoren. Anfang der 1980er Jahre gründete er die Arbeiterpartei PT mit. 2002 wurde der Arbeiterführer im vierten Anlauf zum Präsidenten gewählt.

Vier traumatische Jahre

Während seiner damaligen Amtszeit leitete Lula eine durch einen Rohstoffboom begünstige Umverteilung ein. Millionen von Brasilianer*innen entkamen der Armut, Schwarze konnten erstmals Universitäten besuchen, Hausangestellte bekamen Rechte zugesprochen. Auf Lula folgte seine politische Ziehtochter Dilma Rousseff, sie wurde 2016 nach einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren abgesetzt. Im folgenden Jahr wurde Lula wegen passiver Korruption und Geldwäsche verurteilt. Das Urteil stützte sich auf Indizien, Beweise konnte die Staatsanwaltschaft nicht präsentieren. Trotzdem kam er in Haft.

Doch damit nicht genug, Brasiliens serienreife Geschichte nahm weitere Volten: 2019 kam Lula aus der Haft frei, im März 2021 wurden alle Urteile gegen ihn annulliert. Nun ist er zurück an der Spitze des größten Landes Lateinamerikas.

Traditionell wird am Neujahrstag der neue Präsident vereidigt. Am 1. Januar 2023 feierten Hunderttausende die spektakuläre Rückkehr Lulas. Doch noch mehr als seinen Sieg feierten sie die Abwahl Bolsonaros. Lauar verzieht das Gesicht. In einem Wort lasse sich die Amtszeit Bolsonaros zusammenfassen: "Hölle". Traumatisch seien die vier Jahre mit ihm gewesen. Bolsonaro habe das Land in die Katastrophe gestürzt, vor allem während der Pandemie. Er spielte das Virus als "kleine Grippe" herunter, machte sich über Kranke lustig, sabotierte den Kauf von Impfstoffen. Die Folge: Corona-Chaos, die zweitmeisten Toten nach den USA. Die Maré war die Favela mit den meisten Todesfällen in ganz Rio de Janeiro. "Viele infizierten sich, weil sie arbeiten mussten", sagt Lauar. Fast jeder kennt jemanden, der an Corona starb.

So ist es kein Wunder, dass die psychischen Krankheiten in die Höhe schossen. Ein großes Problem: Das öffentliche Gesundheitssystem in Brasilien sieht keine Psychotherapien vor. Und private Sitzungen sind für Favela-Bewohner*innen nicht zu bezahlen. So war es auch bei Lauars Schwester. Sie leidet unter Depressionen und Angststörungen, bekam aber keine Hilfe. Und so gründete Lauar eine Nichtregierungsorganisation (NGO) für Mentale Gesundheit. Die Idee: Bewohner*innen der Maré mit freiwillig arbeitenden Psycholog*innen zusammenbringen. Einigen Menschen konnte so geholfen werden, sagt Lauar. Doch sie habe viel Leid erlebt. Einmal erhielt sie einen Anruf von einer Frau, deren Mann an Corona gestorben war. "Sie war verzweifelt und drohte, sich und ihre Tochter umzubringen." Lauar fuhr zu ihr, organisierte Lebensmittel für die Familie, konnte so ein Drama verhindern.

Auch in anderen Punkten gibt es anhaltend Kritik an Bolsonaro. Mit seiner Kahlschlagpolitik im Regenwald hat er das Land zum Paria gemacht. Er fällt mit rassistischen und homofeindlichen Ausfällen auf, verherrlicht die Militärdiktatur. Was bei der Bolsonaro-Debatte im Ausland häufig untergeht: Bolsonaro verfolgt eine marktradikale Wirtschaftspolitik. Er ließ Staatsbetriebe privatisieren, kürzte Sozialprogramme, schwächte Gewerkschaften. Gepaart mit einer schweren Wirtschaftskrise stürzte seine Amtszeit viele Brasilianer*innen ins Elend.

Das Land rangiert heute erneut auf der UN-Welthungerkarte, 33 Millionen Menschen sollen bereits hungern. In den Sozialen Medien sieht man Videos von Menschen, die in Müllwägen in den Essensresten wühlen. "Auch hier in der Maré hungern Menschen", sagt Lauar. Sie ist Mitglied einer Gruppe, die Lebensmittelspenden an die Ärmsten verteilt. Reis, Bohnen, Nudeln. Es ist nicht viel, aber viele könnten ohne die Spenden kaum überleben. Wenn sie die Pakete in der Maré verteilen, bilden sich immer lange Schlangen. Auf den Staat verlassen sich hier in den teils engen Gassen nur die wenigsten.

Für die Favela-Bevölkerung, für Menschen wie Lauar, hatte Bolsonaro nie viel übrig. Vor seinem Wahlsieg polterte er, er wolle Scharfschützen in Favelas einsetzen, um Banditen abzuknallen. Einmal forderte er, arme Frauen zu sterilisieren, damit sie weniger Kinder bekommen.

Und dann war da noch die Sache mit dem Lula-Besuch. Im Wahlkampf stattete der Präsidentschaftskandidat dem Alemão einen Besuch ab, einem Favela-Complex ganz in der Nähe der Maré. Umringt von lokalen Aktivist*innen hielt Lula eine flammende Rede, versprach Hilfe, sollte er gewählt werden. Auch Lauar stand mit ihm auf der Bühne. Ein großer Moment. Doch den digitalen Milizen Bolsonaros passten die Bilder gar nicht. Und sie taten, was sie immer tun: Sie verbreiteten wilde Falschmeldungen.

"Sie haben es so dargestellt, als seien wir Banditen", sagt Lauar. "Bolsonaro hat ein riesiges Fake-News-Netzwerk hinter sich." In einer Fernsehdebatte griff der damalige Präsident die Lügen erneut auf und brachte Favela-Bewohner*innen mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung. Doch die Attacke ging nach hinten los. Viele Favela-Bewohner*innen reagierten empört auf den Generalverdacht, Bolsonaro verlor die Stichwahl in den meisten Favelas deutlich. In der Maré stimmten 58 Prozent für Lula.

Der Bolsonarist

Doch nicht alle sind begeistert vom neuen Präsidenten. Kevin Vicente de Almeida, 29, ist ein fröhlicher, etwas rundlicher Mann. Er trägt Polohemd, der Bart und die Haare sind akkurat getrimmt. Beim Lächeln blitzt eine Zahnspange aus dem Mund. Es ist der Look von jemanden, der es geschafft hat. Seine Eltern kamen aus dem armen Nordosten nach Rio de Janeiro. Der Traum vom besseren Leben, für viele erfüllt er sich nicht. In Brasiliens Klassengesellschaft ist es nicht vorgesehen, dass Menschen aus Favelas eine Hochschule von innen sehen. Doch Almeida hatte Glück. Vor einigen Jahren erhielt er ein Stipendium, studierte Jura, heute arbeitet er als Anwalt.

Almeida mag seine comunidade, seine Gemeinde. Die lockere Art, den Zusammenhalt, dass sich alle kennen. Doch es gebe große Probleme, vor allem die Gewalt. Wenn es knallt, stehen sich Polizei und Drogengangs in stundenlangen, kriegsartigen Gefechten gegenüber. Im Kugelhagel sterben häufig Unbeteiligte. Kurz vor dem Beginn der Fußballweltmeisterschaft 2014 besetzte das Militär den Favela-Komplex. Offizielles Ziel: eine Polizeistation einrichten. Anwohner*innen berichteten von schweren Menschenrechtsverletzungen. Willkürliche Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Folter. Das Militär ist mittlerweile abgezogen, die Probleme sind geblieben. Eine Polizeistation gibt es in der Maré immer noch nicht. Aber eine andere Ordnungsmacht. An vielen Ecken der Favela sitzen junge Männer, manchmal fast noch Kinder, vor klapprigen Tischen. Darauf stapeln sich kleine Tütchen mit Kokain und Cannabis. Sie tragen Fußballtrikots, haben Goldketten um den Hals und fette Sturmgewehre über die Schulter gehängt. Die Bewohner*innen haben sich an den Anblick der Traficantes, der Dealer, gewöhnt. Aber es ist nur eine scheinbare Normalität. Die Jungs mit den schweren Waffen sind Ausdruck einer gescheiterten Sicherheitspolitik. Daran haben auch die Amtszeiten der Arbeiterpartei bisher nichts geändert. Weder Lula noch seine Nachfolgerin Rousseff fanden Antworten auf die Gewalt. Bolsonaro hatte mit seinen populistischen Forderungen und markigen Sprüchen ein leichtes Spiel.

Mit Waffen gegen Gewalt

Wenn Almeida durch sein Viertel läuft, bleibt er oft für ein Pläuschchen stehen. "Tudo bem?", "Alles gut?", Daumen hoch. Vor einer vermüllten Kreuzung bleibt er stehen. Gazastreifen wird diese Gegend genannt. Hier kommt es besonders oft zu Schusswechseln. Die Einschusslöcher an den Wänden zeugen von dem Krieg, der eigentlich keiner ist. An einer Mauer sind blaue und weiße Kacheln angebracht, darauf stehen Namen. Es ist ein Denkmal für die Toten. Almeida liest vier Namen vor. "Die kannte ich", sagt er.

Die Gewalt, ist sich Almeida sicher, ließe sich stoppen, wenn alle bewaffnet wären. "Wenn der Staat nicht in der Lage ist, ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten, sollte der Bürger das Recht haben, sich selbst zu schützen." Das sagt auch Bolsonaro. Eines seiner zentralen Wahlkampfversprechen war es, die strikten Waffengesetze zu liberalisieren. Vielen Initiativen machte der Oberste Gerichtshof zwar einen Strich durch die Rechnung. Doch trotzdem sind laut Studien immer mehr Waffen im Umlauf. Expert*innen fürchten die Folgen: mehr Morde, mehr Suizide, mehr Unfälle.

Almeidas Sympathie für Bolsonaro hat noch einen anderen Grund. Vor elf Jahren, erzählt er, habe sein zweites Leben begonnen. Mit zwei Freunden sei er durch sein Viertel gelatscht, alles wie immer. Doch plötzlich habe er nicht mehr sehen können, aber jemanden an der Seite gespürt. Und Almeida hörte eine innere Stimme: Geh in die Kirche! Viele Evangelikale erzählen solche Erweckungsgeschichten. Seit jenem Tag ist Almeida Mitglied einer kleinen Pfingstgemeinde, geht dreimal in der Woche zum Gottesdienst, trinkt keinen Alkohol. Ein Leben für Jesus.

Der Kontakt zur armen Bevölkerung

In der Maré stehen überall kleine "Garagentempel", oft nur mit ein paar Plastikstühlen, Mikrofon und Boxen. Die Heilsversprechen und charismatische Pastor*innen kommen gerade bei armen Brasilianer*innen gut an. Laut Studien werden die Evangelikalen schon in zehn Jahren die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Denn sie sind tatsächlich dort präsent, wo der Staat es nicht ist.

Die meisten Kirchen sind erzkonservativ und standen treu an der Seite Bolsonaros. Der rechte Rüpel, selbst eigentlich katholisch, suchte die Nähe zu den Evangelikalen, ließ sich medienwirksam von einem Pastor im Jordan taufen. Und er sprach sich kategorisch gegen Abtreibungen und Drogenreformen aus. Almeida findet das richtig, viele Pläne der Linken bereiten ihm hingegen Sorgen. Er bezeichnet sich selbst als konservativ, "eher rechts". Dennoch: Er ist kein fanatischer Bolsonarist. Lula habe die Wahl gewonnen, das müsse man akzeptieren.

Brasiliens neuer, alter Präsident hat sich viel vorgenommen. Lula hat eine 180-Grad-Wende in der Umweltpolitik versprochen, will die tief gespaltene Gesellschaft wieder zusammenbringen, bringt sein Land gar als Vermittler im Ukraine-Krieg ins Spiel. Und tatsächlich hat er selbstbewusst losgelegt, hat ein diverses Kabinett gebildet, mit vielen Linken auf Schlüsselpositionen, hat den Mindestlohn angehoben und ein von Bolsonaro zerschlagenes Programm zur Bekämpfung des Hungers wieder eingeführt.

Fraglich bleibt, wie viel Spielraum er für grundlegendere Reformen haben wird. Denn die Rechte ist weiterhin stark. Bolsonaros Partei stellt die stärkste Fraktion im Parlament, auch der neue Gouverneur Rio de Janeiros ist ein strammer Rechter. Und Bolsonaros Fußvolk ist überaus aktiv, nicht nur im Netz. Am 8. Januar wagten Anhänger*innen des Ex-Präsidenten den Aufstand als sie marodierend durch das Regierungsviertel Brasílias zogen.

In den Favelas ist die große Politik oft weit weg, viele Menschen fühlen sich nicht von der institutionellen Politik repräsentiert. Mitglieder von Lulas Arbeiterpartei PT beten zwar gebetsmühlenartig herunter, die Basis wiederaufzunehmen und den Kontakt zur armen Bevölkerung suchen zu wollen. Sie lassen sich dann aber höchstens mal kurz vor Wahlen in den Favelas blicken. Auch in der PT geben Weiße aus der Mittelschicht den Ton an. Eine spezifische Bundespolitik für die Favelas gibt es nicht, ein gefordertes Favela-Ministerium wurde nicht eingerichtet. Und ein dringend notweniger Dialog mit der evangelikalen Bevölkerung kommt nur schleppend voran.

Zudem wird Lula im stark zerstückelten Parlament hart um Mehrheiten kämpfen müssen. Um die Wahl zu gewinnen, setzte er auf eine breite Koalition, auch mit konservativen Kräften. Einige sind nun Teil der Regierung und werden grundlegendere Transformationen, wie einer Polizei- oder Drogenreform, im Weg stehen. Deshalb glauben viele: Für die Bewohner*innen der Favelas wird sich in den kommenden vier Jahren nur wenig ändern. Auch die Aktivistin Simone Lauar bleibt kritisch. "Ich habe Lula unterstützt, aber würde meine Hand für ihn nicht ins Feuer legen." Wenn er nicht liefert? "Dann gehen wir wieder auf die Straße."