Ausgabe 04/2023
Der lange Schatten der Diktatur
Von weitem schon ist Musik zu hören. Auf einer Hüpfburg spielen Kinder. In Bajos de Mena, einem berühmt-berüchtigten Armenviertel von Santiago veranstaltet die Gewerkschaft der Schule Monte Olivo an einem Sonntag im Juni eine Completada, eine Art Spendenaktion. Completos, die chilenischen Hot-Dogs mit Tomate und Avocado, werden verkauft, um Geld für die Gewerkschaft zu sammeln und die junge Organisation in der Gemeinschaft bekannt zu machen.
Rodrigo Hidalgo, ein 29-jähriger Geschichtslehrer rennt hin und her, organisiert und verteilt fertige Completos an Schüler*innen und Nachbarn. Erst im Dezember hat sich die Gewerkschaft gegründet – und hat enormen Zulauf seither. Nach gerade mal einem halben Jahr sind rund 80 der 120 Angestellten der Schule der Organisation beigetreten. Hidalgo ist der Präsident und sichtbar glücklich über den Erfolg.
Geheime Gewerkschaftsgründung
Denn 50 Jahre nach dem Militärputsch und dem Beginn einer 17-jährigen Militärdiktatur sind in Chile immer noch nur 22 Prozent der arbeitenden Bevölkerung gewerkschaftlich organisiert. Die Militärdiktatur hat die chilenischen Gewerkschaften hart getroffen. Mehr als 30 Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie probieren Gewerkschafter*innen auf allen Ebenen, das Vermächtnis der Diktatur hinter sich zu lassen.
Der Geschichtslehrer Hidalgo setzt sich einen Moment hin und erzählt. Er arbeitet seit etwas mehr als einem Jahr in der Schule, die zwar einem privaten Unternehmensfonds gehört, aber aufgrund von staatlichen Subventionen für die Schüler*innen kostenlos ist. Das Viertel und die Schule sind Ausdruck des neoliberalen Chiles, meint Hidalgo. Am Rand der Stadt wurden Anfang der 1990er Jahre winzige Wohnungen für die arme Bevölkerung gebaut. Bis ins Stadtzentrum braucht es mit dem Bus bis zu zwei Stunden.
Öffentliche Aufgaben werden häufig von privaten Akteuren übernommen. Rund die Hälfte aller kostenlosen Schulen in Chile sind in privater Hand, dessen Träger zwar offiziell keinen Profit erzielen dürfen, dies aber durch Taschentricks häufig machen. Drogenkriminalität, Armut und soziale Probleme sind an der Schule von Hidalgo Alltag. Gerade mit der Pandemie sind viele Schüler*innen zudem depressiv geworden.
Die Lehrer*innen seien mit dem Druck in der Schule überfordert, häufig müssten sie Materialien für die Schüler*innen mit ihrem eigenen Geld zahlen und vor allem fühlen sie sich von der Schuldirektion alleingelassen. "Mir war schnell klar, hier braucht es eine Gewerkschaft", sagt Hidalgo.
Er erzählt, wie sie im Geheimen die Gewerkschaft gründeten, um dann, nachdem ihre Verträge für das Jahr 2023 erneuert wurden, die Gründung öffentlich bekanntzugeben. "Kolleg*innen erzählten uns von einer früheren Gewerkschaftsgründung, bei der fast alle Mitglieder sofort entlassen wurden", sagt Hidalgo, "das war eine Vorwarnung". Nun haben sie zumindest ein Jahr, um die Gewerkschaft aufzubauen.
Im Fadenkreuz
Gewerkschaften und soziale Organisationen lagen im Fadenkreuz der Militärdiktatur, sagt der Historiker Igor Goicovich. Ein Großteil der über 3.000 ermordeten und knapp 30.000 gefolterten Personen – Opfer der Diktatur – stammten aus der sogenannten Zivilgesellschaft, die zuvor starke Interessenvertretungen hatten. Während der Regierungszeit des Sozialisten Salvador Allende, die am 11. September 1973 abrupt mit dem Militärputsch endete, besetzten die Arbeiter*innen reihenweise Fabriken und verwalteten diese selbst.
Dieses Selbstbewusstsein sollte zerstört werden. Goicovich sagt, "im lateinamerikanischen Vergleich ermordete die chilenische Diktatur eher wenige Personen, doch sie setzte an den Bindegliedern der Gesellschaft an, dort wo politisch gestaltet wurde im Land". Gezielt wurden die Vorstände und politischen Führungskräfte sozialer Organisationen gefangen genommen, gefoltert, ermordet, viele verschwanden spurlos. So köpfte die Diktatur die politische Willensgestaltung der ärmeren Bevölkerung.
Als zweites Element setzte die Diktatur 1979 unter der Führung des damaligen Arbeitsministers José Piñera, Bruder des ehemaligen Präsidenten Sebastián Piñera (2010–2014, 2018–2022), den sogenannten Plan Laboral um. Das Ziel war es, "den Arbeitsschutz zu reduzieren, die Gewerkschaften zu entpolitisieren und ein System einzuführen, in dem Gewerkschaften untereinander in Konkurrenz stehen", sagt der Wirtschaftswissenschaftler Gonzalo Durán.
Durán gehört dem gewerkschaftsnahen Think-Tank Fundación Sol an und unterrichtet am Lehrstuhl für soziale Arbeit der Universidad de Chile. Bei der Wirtschaftsfakultät hätten linke Forscher wie er keinen Platz, sagt der Professor mit einem schüchternen Grinsen auf dem Gesicht.
Durán sitzt in einem Café, nachdem er bei einer Diskussionsrunde über Gesamtarbeitsverträge einer Gewerkschaft teilgenommen hat. In Chile ist es Gewerkschaften bis heute verboten, über spezifische Unternehmen hinaus Arbeitskonflikte zu führen und Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Noch kurz zuvor während seines Vortrags erzählte Durán eine Anekdote aus seinem Doktorat in Köln. "Eine Kollegin aus der Türkei hielt einen Vortrag über die extreme Zersplitterung von Gewerkschaften vor Ort, sie sagte es gäbe über 100 verschiedene Organisationen. Dann kam ich dran und meinte, in Chile gibt es mehr als 12.000 Gewerkschaften. Die Leute konnten es kaum glauben." Im Saal ertönt ein bescheidenes Lachen. Die Gewerkschaftler*innen sind sich der Situation bewusst und werden später sagen, es brauche trotz aller Meinungsverschiedenheiten mehr Einheit.
Die Zersplitterung der Gewerkschaftswelt führt dazu, dass es kaum ausreichende Streikkassen, geschweige denn Forschung oder Lobbyarbeit gibt, sagt Durán. "Viele Gewerkschaften haben nur 40 Mitglieder und in einem Unternehmen kann es gut und gerne 100 Organisationen geben, die um Mitglieder buhlen, indem sie vergünstigte Handy-Abos oder Gasflaschen anbieten. Die politische Dimension geht komplett verloren." Bei seinen Vorträgen erlebt Durán daher viel Frust, "die Menschen sind erschöpft vom ewigen Konkurrenzkampf untereinander und fehlender Möglichkeiten, ihren Forderungen Raum zu verschaffen".
Das Ministerium der Arbeiter*innen
Die aktuelle Regierung unter dem ehemaligen Studierendenführer Gabriel Boric hat sich zum Ziel gesetzt, den politischen Spielraum der Gewerkschaften zu erweitern. In seinem Wahlprogramm stand die Wiedereinführung des Rechts auf Gesamtarbeitsverträge, die Stärkung der Gewerkschaften, die Einführung der 40-Stundenwoche und die Erhöhung des Mindestlohns auf etwa 570 Euro.
Im April verabschiedete das chilenische Parlament die entsprechenden Gesetzesprojekte für die beiden letzten Versprechen. Doch um eine Mehrheit im Parlament zu erlangen, musste die Regierung Eingeständnisse gegenüber der rechten Opposition machen, und aufgrund der Inflation, die im letzten Jahr bei knapp 12 Prozent lag, fällt der Mindestlohn effektiv deutlich tiefer aus als eigentlich versprochen.
Das Arbeitsministerium feiert trotzdem mit einer großen 40 neben dem Eingang den Erfolg der eigenen Politik. In einem Sitzungssaal im 3. Stock sitzt derweil der Staatssekretär für Arbeit, Giorgio Boccardo. Ein Soziologe, der vor seinem Einzug in die Regierung bei Studierendenorganisationen aktiv war und später als Forscher unter anderem die Arbeitsmarktpolitik der Diktatur studiert hat.
An einer Wand hängen Bilder wichtiger Personen der chilenischen Gewerkschaftsbewegung, unter anderem Luis Emilio Recabarren, Gründer der Kommunistischen Partei Chiles. Boccardo erzählt, "als wir ins Ministerium kamen, waren diese Bilder im Archiv gelagert. Wir haben sie wieder aufgehängt und mit Bildern wichtiger Frauen der Gewerkschaftsbewegung ergänzt". Dies sei das Ministerium der Arbeiter und Arbeiterinnen, so Boccardo, und es sei wichtig, dass sich die Gewerkschaften hier wiederfinden.
Das sah während der vier Jahre des rechten Vorgängerpräsidenten, Sebastián Piñera, noch ganz anders aus. Unter ihm gab es kaum Gespräche mit den Gewerkschaften, sagt Boccardo. Die Beziehung war sehr kalt. „In unseren ersten Sitzungen äußerten die Gewerkschaftler ihre Dankbarkeit, endlich empfangen zu werden.“
Die neue Strategie
Die politische Strategie im Arbeitsministerium basiere auf zwei Grundpfeilern, erklärt der Staatssekretär. "Wir nehmen die historischen Forderungen der Gewerkschaften auf und setzen uns im Ministerium für ein Klima ein, in der alle Verhandlungen zwischen drei Parteien stattfinden: den Gewerkschaften, den Unternehmen und der Regierung."
Letzteres sei ein Novum in Chile, das die Unternehmen zu Beginn überraschte, "mittlerweile haben sie sich daran gewöhnt", sagt Boccardo und lächelt milde. "Wir wollen ein Klima schaffen, in dem die Existenz von Gewerkschaften kein Sonderfall, sondern Normalität ist." Denn im Normalfall sei die Stärkung von Gewerkschaften direkt mit höherer Lebensqualität und geringerer sozialer Ungleichheit verknüpft. Die Einbeziehung der Gewerkschaften würde zudem zu einem größeren Selbstvertrauen der organisierten Arbeiter*innen führen, sagt Boccardo. Dies sei neben neuen Gesetzen fundamental, um die Gewerkschaften an sich zu stärken.
Angesichts der fehlenden Mehrheit im Parlament, sei es nötig, mit allen politischen Kräften zu verhandeln. Da sei es hilfreich, dass die Reformen, insbesondere die zur Verkürzung der Arbeitszeit, hohe Zustimmungswerte genießt. "Bis zu 70 Prozent der Bevölkerung sprachen sich zuletzt dafür aus", betont Boccardo. Es freut ihn sichtlich, er sagt: "Dass ein so großer Teil der Bevölkerung für etwas ist, ist in der heutigen Zeit extrem selten."
Erfolg und Misserfolg
Nur wenige Schritte vom Arbeitsministerium entfernt liegt das zentrale Gebäude des Gewerkschaftsbunds, Central Unitaria de Trabajadares, die rund 80 Prozent aller Gewerkschaften unter einem Dach vereint. Dort empfängt die Präsidentin der Gewerkschaft von Cornershop, einem Tochterunternehmen der Dienstleistungsplattform Uber, den Besuch aus Deutschland.
Die selbstbewusst auftretende Angélica Salgado ist mit dem Staatssekretär Boccardo per Du, sie arbeiten seit Jahren zusammen und gerade jetzt sei sie froh, dass Personen wie "Giorgio" im Ministerium sitzen. Im Dezember 2022 hatte die dortige Arbeitsdirektion auf der Grundlage bestehender Gesetze festgelegt, dass alle Menschen, die für Dienstleistungsplattformen arbeiten, dort ein Anstellungsverhältnis haben müssen. Ein Erfolg für die Arbeiter*innen, dessen Umsetzung nun folgen muss.
Salgado erzählt, wie sie ihre Gewerkschaft gründeten. Sie selbst begann im Jahr 2017 bei Cornershop zu arbeiten, damals war das Unternehmen noch selbstständig und stellte alle Personen mit Arbeitsvertrag an. Salgado kaufte für Personen im Supermarkt ein und lieferte die Ware bei den Kund*innen zu Hause ab.
Damals gründete sie zusammen mit anderen Kolleg*innen eine Gewerkschaft, und kurz bevor Uber im Jahr 2019 Cornershop übernahm, akzeptierte die Unternehmensleitung ihre Forderungen und übergab das Geschäft an Uber, einschließlich ihrer gestärkten Gewerkschaft. "Das war für uns ein Glücksfall", sagt Salgado und lacht. Denn so bekam Uber seine weltweit erste Gewerkschaft mit einem gültigen Gesamtarbeitsvertrag für das Unternehmen.
In dieser Art Unternehmenswelt auf Gewerkschaften zu treffen sei sehr selten, sagt Salgado. Derzeit sei vor allem das Büropersonal organisiert, während die Unternehmensleitung immer wieder versucht, die Gewerkschaft aufzulösen.
In einem Bereich hat dies Uber auch schon geschafft, muss Salgado eingestehen. Mit der Zeit wurde das ganze Personal, das auf der Straße unterwegs ist, ausgegliedert. All diese Beschäftigten arbeiten derzeit in Scheinselbstständigkeit. Ein paar wenige Personen wie Salgado kamen in den Genuss eines Büroarbeitsplatzes und der Gewerkschaft. Die Menschen auf der Straße zu organisieren sei äußerst schwierig, sagt Salgado. "Viele Leben ohne Aufenthaltspapiere in Chile und nutzen in der App falsche Identitäten." Jede Kontrolle stellt daher auch das Risiko dar, aufzufliegen und abgeschoben zu werden.
Die rechte Gefahr
"Es wäre schön", sagt Salgado, "50 Jahre nach dem Militärputsch wieder starke Gewerkschaften zu haben." Doch die Realität ist eine andere. Derzeit erlebt die rechtsextreme Republikanische Partei immer mehr Zulauf. Es besteht die Gefahr, dass in gut zwei Jahren der Wortführer der Partei, José Antonio Kast, zum Präsidenten gewählt wird. Kast leugnet die Menschenrechtsverletzungen der Diktatur und hält einen Großteil der Politik der Militärdiktatur sogar für richtig. Ein Wahlsieg seiner Partei könnte daher einen enormen sozialen Rückschritt zur Folge haben.
Was muss passieren, um das zu verhindern? Darauf weiß Staatssekretär Giorgio Boccardo nur eine Antwort: "Wir müssen die Gewerkschaften dauerhaft stärken, damit sie ihre Rechte verteidigen können."