PJ Harvey: I Inside The Old Year Dying

Er war immer etwas erstaunlich, der große Erfolg von PJ Harvey. Die eng­lische Musikerin hält seit Jahrzehnten die diffizile Balance zwischen Kultstatus und Verkaufserfolg. Ihr letztes Album The Hope Six Demolition Project wurde von der Kritik gefeiert, debütierte auf Platz Eins der englischen Charts und erreichte im Rest von Europa zielsicher die Top Ten.

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Das war allerdings schon 2016, und hier liegt ein Teil des Erfolgsgeheimnisses: Willst du was gelten, mach dich selten. Ihr neues, zehntes Album I Inside The Old Year Dying zeigt die mittlerweile 53-Jährige erneut auf der Höhe ihres Schaffens: Harvey nimmt uns mit in Todessehnsucht, verlorene Liebe und andere seelische Abgründe, ohne in Agonie zu versinken. Selten war Leiden so anmutig, wenn ihre zerbrechliche Stimme ihre elegante Poesie ausbreitet auf so minimalen wie fantasievollen Folk-Klängen, in denen auch schon mal Bienen summen oder Vögel zwitschern. Im vergangenen Jahr erst hat Harvey mit Orlam einen epischen Lyrikband veröffentlicht, aber man muss gar nicht jedes Wort verstehen, um der reinen Schönheit ihrer Sprache folgen zu können. In die abzutauchen aber hat man nun ausreichend Zeit, denn das nächste Werk wird vermutlich wieder lange auf sich warten lassen.

Thomas Winkler

Partisan/PIAS/Rough Trade

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Dota: In der fernsten der Fernen

Sie ist nahezu vergessen, dabei galt ­Mascha Kaléko einst als weiblicher Ringelnatz oder wahlweise auch als weib­licher Kästner. Die Dichterin der Neuen Sachlichkeit feierte mit ihrer schnoddrigen Großstadtlyrik, in der das Leben der einfachen Menschen in Berlin gefeiert wurde, Erfolge in der Weimarer Republik, bevor sie als Jüdin von den Nazis verboten wurde und fliehen musste. Der Berliner Liedermacherin Dota Kehr gebührt die Ehre, Maschas wundervolle Poesie einem neuen Publikum nahezubringen. 2020 vertonte sie Gedichte der 1975 verstorbenen Kaléko, nun folgt ein zweites Album: In der fernsten der Fernen. Bei der ersten Auflage hatte Dota Unterstützung von prominenten Kollegen wie Hannes Wader und Konstatin Wecker, diesmal helfen ihr Dirk von Lowtzow, Gisbert zu Knyphausen oder Funny van Dannen. Die dürfen nun Zeilen singen, die kein Pathos, aber großen Witz kennen, die selbst die Einsamkeit im Exil oder die Sehnsucht nach der ­verlorenen Heimat mit leisem Spott abmildern: „Wenn einer fortgeht, braucht man nichts zu essen / Man wird so leicht vom Tränenschlucken satt.“ Dota Kehrs Leistung ist es, diese Texte so klingen zu lassen, als wären sie ausdrücklich für den sanften Folk-Pop ihrer Band geschrieben worden.

Thomas Winkler

Kleingeldprinzessin Records/Broken ­Silence

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Damir Imamović: The World And All That It Holds

Was dem Portugiesen der Fado oder dem Griechen der Rembetiko, ist dem Bosnier die Sevdah – zumeist schwermütige Lieder, die von Vertreibung und Entwurzelung, von unerfüllten Sehnsüchten und verschmähter Liebe erzählen. Der bosnische Sänger und Song­writer Damir Imamović ist ein Bewahrer und Erneuerer der Sevdah-Tradition. Die Sevdah auch bekannt als bosnischer Blues, ist eine kunstvolle Volksmusik-Tradition mit einer langen Geschichte, die bis in die osmanische Zeit zurückreicht. Imamovićs Sevdah ist eine ­Verneigung vor seiner Heimatstadt ­Sarajewo und ihren vielschichtigen ethnischen Einflüssen. Die verwendeten Tonskalen und Rhythmen und Grooves offenbaren unüberhörbar ihre Verwandtschaft mit den Musik-Traditionen der übrigen Balkanregion und der Türkei. Hinzu kommt der Einfluss der im 15. und 16. Jahrhundert hierher geflohenen sephardischen Juden nach ­ihrer Vertreibung aus Spanien, wo sie zuvor unter der maurischen Herrschaft lange in friedlicher Koexistenz mit Muslimen und Christen gelebt hatten. Dies alles wird in Imamovićs leidenschaft­licher Song-Poesie lebendig.

Peter Rixen

CD, Smithsonian Folkways