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Dicht an dicht reihen sich an der Raststätte Gräfenhausen an der A5 bei Darmstadt wieder azurblaue Lastwagen aneinander. Vor der Ausfahrt blinkt in roten Lichtern: g-e-s-p-e-r-r-t. Der Parkplatz ist überfüllt. Doch schon rollt wieder ein blauer Truck heran, hinter der Windschutzscheibe klemmt eine georgische Fahne, weiß mit roten Kreuzen, daneben hockt ein Plüschschaf mit Kulleraugen. "NO MONEY", haben die Fahrer mit silbernem Klebeband in riesigen Buchstaben auf die Lkw-Plane geschrieben, dazu den Namen ihrer polnischen Spedition: Mazur. "Wir haben nur eine einzige Forderung", sagt Darejan Gelaschwili*, 49. "Wir wollen unseren Lohn, der uns zusteht. Mehr nicht."

Die pure Verzweiflung

Der Vater von vier Kindern verdient 80 Euro am Tag, inklusive Spesen. Seit zwei Monaten habe er keinen Cent mehr nach Hause schicken können. "Das ist ein Riesenproblem." Andere Fahrer wurden seit drei oder vier Monaten nicht bezahlt. Ein Mann im schwarzen Kapuzenpulli nickt und blickt ernst: "Die ganze Familie wartet auf Geld." Seine Augen sind rot, er sieht erschöpft aus. Doch für die Männer aus Georgien, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisistan und Kasachstan, die kreuz und quer, oft fern von ihrer Heimat, Güter durch Europa transportieren, steht fest: "Wir bleiben hier, bis alle ihren Lohn bekommen haben", betont Darejan Gelaschwili. "Und zwar gemeinsam."

Nur drei Monate ist es her, dass über 60 Fahrer der Mazur-Gruppe in Gräfenhausen streikten. Sechs Wochen lang harrten die Männer auf dem engen Parkplatz aus, bis sie endlich ihr Geld erhielten. Jetzt folgten innerhalb weniger Tage rund 150 Fahrer ihrem Beispiel, mehr als doppelt so viele. Sie parken diesmal auch auf der anderen Seite der Autobahn, einige vereinzelt auf Parkplätzen in der Nähe. "Gräfenhausen ist bei Lastwagenfahrern zu einer Art Mythos geworden", sagt Anna Weirich vom DGB-Beratungsnetzwerk Faire Mobilität. Die Männer hätten gelernt: "Wenn sie als Fahrer zusammenstehen, können sie etwas erreichen." Und sie hätten erlebt, dass es in Südhessen ein breites Unterstützungsnetzwerk gibt.

„Wir sind nach Deutschland gekommen, weil wir hier sicher sind – und nicht fortgescheucht oder bedroht werden.“
Anzor Beridze*, Fahrer aus Georgien

"Doch vor allem handelt es sich um pure Verzweiflung", stellt die Gewerkschafterin klar. "Die Männer wissen nicht, wie sie sonst an ihr Geld kommen sollen." Die Fahrer seien monatelang auf den Autobahnen in Europa unterwegs, um ihre Familien zu ernähren. "Sie stehen unter enormem Druck." Jeden Tag, den sie auf dem Rasthof stünden, verdienten sie kein Geld. Viele könnten sich nicht mal mehr etwas zu Essen kaufen.

Offenbar gehört zum Geschäftsmodell der Spedition Mazur, die Löhne erst sehr spät zu zahlen. Zudem berichten die Männer, dass ihnen regelmäßig Geld vom Lohn abgezogen werde. Mal 200 Euro, mal 250 Euro. Als Begründung heiße es, sie müssten Strafzettel oder einen Schaden am Fahrzeug bezahlen, so der Fahrer Bidzina Kapanadse. Aber auch auf Nachfrage bekämen sie keinerlei Belege vorgelegt. "Wenn man anruft, geht niemand ans Telefon." Hinzu kommt, dass sie auf ihren Touren kein Geld für eine Unterkunft erhielten, sagt Azizbek Karimov, ein Fahrer aus Usbekistan. Deshalb schliefen sie notgedrungen in ihren engen Fahrerkabinen. Doch in der Schweiz zum Beispiel müssten sie dafür eine Strafe von 45 Euro zahlen. "Unser verdientes Geld ist weg", klagt der 43-Jährige. Er habe drei Kinder. "Sie haben Hunger", sagt er.

Brot und Tomaten

Auf dem Rastplatz stoppt ein Kleinwagen: Ein Rentner aus dem Odenwald hebt eine Kiste voll mit Tomaten und Brot aus seinem Kofferraum. "Die Not hier ist wirklich groß", sagt der 76-Jährige, eine rote ver.di-Kappe auf dem Kopf. Am Vortag habe er schon Kleidung verteilt. Warum? "Ganz einfach: Aus Solidarität!"

Schon beim Streik im März und April brachten viele Menschen aus der Region selbstgebackene Kuchen, Ravioli in Dosen und andere Lebensmittel vorbei. Diesmal koordiniert der DGB in Hessen und Thüringen von Anfang an die Unterstützung. "Wir gucken, was gebraucht wird", sagt der DGB-Geschäftsführer aus Südhessen, Jens Liedtke. "Vor allem geht es um absolute Basics: Brot, Gemüse, Eier." Als sie kürzlich Kaffee mitbrachten, sei die Freude riesig gewesen. "Die Ansprüche sind nicht groß." Ein Tag pro Woche steuert regelmäßig die Tafel den Rastplatz an, einen anderen übernehmen jeweils die IG Metall Jugend aus Darmstadt und die Katholische Betriebsseelsorge.

Tipps aus der Ferne

Die Lkw-Fahrer nutzen die Ladefläche eines leeren Lastwagens als Küche. Aus Metalllatten haben sie einen Tisch und zwei Bänke aufgebaut, eine Plastikfolie als Tischdecke ausgebreitet. In einem Topf köcheln Kartoffeln, daneben hockt ein Fahrer auf dem Boden, formt aus Maismehl und Wasser kleine Fladen und brät sie mit viel Öl in einer Pfanne. Wer den Kopf hinter die blaue Lkw-Plane steckt und die drei Stufen hochklettert, bekommt sofort etwas zu Essen angeboten: Ein Teller mit Erbsensalat geht reihum. Mit breitem Lächeln fordert ein Fahrer alle auf, davon zu probieren. Unmöglich abzulehnen.

"Die Deutschen helfen uns sehr", sagt Anzor Beridze, 49. "Dafür sind wir dankbar. Nur so können wir unseren Streik durchhalten." Der Vater von drei Kindern war im Frühjahr mit seinem Lkw in Italien unterwegs, als er vom Protest der Kollegen erfuhr. Seine Landsleute schickten ihm damals Fotos und Videos aus Gräfenhausen. Jetzt steht er selbst hier. Der Fahrer aus Georgien streckt sein Handy hoch: Die Kollegen, die vor drei Monaten streikten, unterstützten sie nun aus der Ferne mit ihrem Knowhow und gäben Tipps. "Wir sind nach Deutschland gekommen, weil wir hier sicher sind – und nicht fortgescheucht oder bedroht werden."

Gut sind den Fahrern noch die Bilder im Kopf, als die polnische Spedition am Karfreitag einen Panzerwagen samt Schlägertrupp nach Gräfenhausen schickte. Die Polizei verhinderte damals, dass die Security-Leute die Lastwagen mit Gewalt mitnahmen. Die Empörung in der Öffentlichkeit war groß. Allerhand Politiker*innen besuchten die Raststätte und bekundeten ihre Solidarität. "Der Protest hat die dramatischen Missstände in der Branche aufgezeigt", sagt Anna Weirich von Faire Mobilität. Aber viel mehr sei seither nicht passiert. "Reden allein hilft nicht." Die meisten Fahrer, die im März und April in Gräfenhausen standen, arbeiteten nicht mehr für die Mazur-Gruppe. "Aber ob es ihnen jetzt besser ergeht, ist fraglich", so die Gewerkschafterin. "Es gibt für Drittstaatler in der Branche keine guten Arbeitsbedingungen." Auch Jens Liedtke, Regionsgeschäftsführer DGB-Südhessen sagt, dass die Ausbeutung von Fahrern aus Nicht-EU-Ländern keine Ausnahme sei. "Es hätte genauso eine andere Spedition sein können."

Es gelte, Sozialdumping und Ausbeutung im Vorfeld zu verhindern, sagt Andrea Kocsis, stellvertretende ver.di-Vorsitzende. "Die Unternehmen, die den Gütertransport beauftragten, haben eine Verantwortung für alle Beteiligten der Lieferkette." Sie fordert schützende Gesetze und mehr Kontrollen. Das neue Lieferkettensorgfaltsgesetz gilt seit 1. Januar 2023 und nimmt Unternehmen in die Pflicht, die Menschenrechte entlang der Lieferketten einzuhalten. Zunächst gilt die Regelung jedoch nur für Firmen ab 3.000 Beschäftigten, ab 2024 ab 1.000 Beschäftigten. "Eine Ausweitung, auch auf kleinere Unternehmen, muss schnell folgen", so Andrea Kocsis, "da ohne gesetzliche Regelung offenbar kein Einsehen der Wirtschaft besteht."

Die Fahrer in Gräfenhausen transportieren Waren von Baumarktketten, Möbelhäusern und Automobilzulieferern kreuz und quer durch Europa. Im Frühjahr war der Streik in dem Moment ruckzuck zu Ende, als ein Konzern dringend die Ladung eines Lastwagens einforderte und mit hohem Schadensersatz drohte. Die Spedition zahlte den Fahrern daraufhin insgesamt über 300.000 Euro.

"Entscheidend war der Druck aus den Lieferketten", bilanzierte danach der niederländische Gewerkschafter Edwin Atema, der im Auftrag der Kollegen die Verhandlungen führte. "Die Unternehmen interessieren sich erst dann, wenn es um ihr Geld geht." Für sie zähle weniger die Frage, ob die Fahrer ausgebeutet und ihre Rechte mit Füßen getreten würden. Alle sähen, was in der Branche los sei. Aber nur wenige kämpften dagegen an, allen voran die Fahrer selbst. Edwin Atema sagte bereits im Frühjahr einen heißen Sommer voraus. Und behielt Recht.

Warten auf den Lohn

Am Anfang sah es so aus, als würde diesmal alles ganz schnell gehen. Am Dienstag, 14. Juli, stoppten vier Lastwagen auf dem Parkplatz in Gräfenhausen, am Mittwoch waren es zwölf. Die Spedition habe zunächst zügig bezahlt, berichtet Anna Weirich. "Das Unternehmen hat nur offensichtlich nichts an seinen Arbeitsbedingungen und seiner Zahlungsmoral geändert." Aber jetzt sei es scheinbar um Schadensbegrenzung bemüht gewesen.

Die Mazur-Gruppe schickte Ersatzfahrer, die nach der Auszahlung der Löhne direkt Schlüssel und Papiere an sich nahmen und mit den Lastwagen weiterfuhren. Doch übers Wochenende steuerten 120 neue Fahrer mit ihren Trucks den Rasthof an – alle in der Hoffnung, so auch noch zu ihrem Geld zu kommen. "Danach wurde nichts mehr bezahlt", sagt Anna Weirich.

Ramaz Tsiklauri aus Georgien war schon beim ersten Streik dabei. Ihm fehlen mehrere Zähne, auch er wirkt erschöpft. Seit April habe er keinen Lohn bekommen, erzählt der 49-Jährige, insgesamt 4.250 Euro. Als er sich beschwerte, habe die Spedition gedroht, ihm seine Arbeitserlaubnis abzunehmen. Fahrer aus Nicht-EU-Staaten benötigen eine Sondererlaubnis. "Wir arbeiten hart", sagt Ramaz Tsiklauri. "Es ist eine Schande für ganz Europa, dass wir nach drei Monaten wieder hier stehen müssen."

Die Spedition habe gefordert, 20 Lastwagen mit wichtiger Ladung rauszugeben, berichtet Nikoloz Maisuradse. Danach wollte sie zahlen. "Um unseren guten Willen zu zeigen, haben wir die Fahrzeuge abgegeben." Doch das Unternehmen habe sich nicht an die Abmachung gehalten. Stattdessen habe ihr Arbeitgeber versucht, nur Fahrer mit dringender Fracht auszuzahlen – und alle anderen nicht. Die Männer fühlten sich betrogen. "Deshalb haben wir beschlossen, nicht mehr einzeln zu verhandeln", sagt der 49-Jährige, "sondern nur noch gemeinsam." Die anderen Männer in der Runde nicken. Die Spedition zeigte die Fahrer inzwischen wegen Erpressung bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt an.

Katastrophale Bedingungen

"Ihre Stärke ist das Kollektiv", sagt Jens Liedtke vom DGB. Deshalb gefällt ihm nicht, dass die Lastwagenfahrer diesmal nicht alle zusammen auf einem Parkplatz stehen. Aber auch aus humanitären Gründen suche er aktuell einen neuen Standort für die Männer, idealerweise mit Feldbetten und etwas mehr Bewegungsfreiheit. Doch leider zeigten die Kommunen in der Region bislang keinerlei Bereitschaft, bedauert der Gewerkschafter. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Messeplätze und ähnliche öffentliche Freiflächen längst privatisiert seien.

Gräfenhausen sei zwar zum Symbol geworden, sagt Anna Weirich von der Fairen Mobilität, aber zugleich auch einfach nur ein Rastplatz. Und zwar kein besonders komfortabler. "Die Bedingungen sind eine Katastrophe." Auf dem Parkplatz gibt es weder Sitzmöglichkeiten noch Schatten, hinter dem Zaun wächst nur Gestrüpp und rund um die Uhr donnern Fahrzeuge mit viel Lärm über die Autobahn.

Immerhin müssen die Fahrer auf Druck von ver.di nicht jedes Mal einen Euro bezahlen, wenn sie die Toilette benutzen. Doch die Duschen sind defekt und ein Wasserhahn außer Betrieb. Auch daran habe sich seit dem Protest im Frühjahr nichts verbessert. "Das ist auch für alle anderen Fahrer ein großes Problem", sagt Anna Weirich. Das Beratungsnetzwerk Faire Mobilität hat gerade eine Studie dazu veröffentlicht, wie sehr Lastwagenfahrer unter den Bedingungen auf Raststätten in Deutschland leiden.

Zwischen den blauen Lastwagen kommt ein junger Mann um die Ecke geflitzt, eine Zigarette im Mund – nur mit einer karierten Badehose bekleidet. Er winkt die Besucher fröhlich zwischen den Fahrzeugen hinter sich her. Die Motorhaube seines Trucks hat er hochgeklappt, daneben einen grauen Plastikbeutel gehängt. Der 33-Jährige seift sich mit Duschgel ein, dreht den Hahn auf und steckt den Kopf unter das kalte Wasser. "Wir können ja nicht wochenlang nicht duschen", erklärt er.

Immer mehr Kollegen gesellen sich dazu, lachen und scherzen. Kurz darauf kommt eine Betriebsrätin von H&M mit einem kleinen Mädchen an der Hand auf den Rastplatz und bringt einen Karton mit Seife und Shampoo. "Wir bleiben hier", sagt Darejan Gelaschwili, der Fahrer aus Georgien. "Bis wir Gerechtigkeit erfahren."

*Alle Namen zum Schutz der Fahrer geändert