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Migrant und Fachkraft in der LogistikFoto: picture alliance/KEYSTONE

Wo einst die Geräusche von Hämmern und Bohrern den Rhythmus des Tages bestimmten, herrscht nun gespenstische Stille. Nur selten sieht man Arbeiter auf den vielen verwaisten Baustellen Berlins. Die aufgerissenen Straßen, die unvollendeten Mauern sind die Folge von Finanzierungsproblemen durch steigende Zinsen und explodierende Materialkosten, vor allem aber sind sie ein Mahnmal für den Fachkräftemangel, der Deutschland plagt.

Doch nicht nur auf Baustellen leidet das Land unter diesem Mangel. Ein paar U-Bahn-Stationen entfernt von der ver.di-Redaktion, in einem überfüllten Krankenhaus, steht eine erschöpfte Pflegerin am Rande ihrer Kräfte. Sie hat in den letzten zwölf Stunden mehr geleistet als viele Menschen in einer ganzen Woche. Ihr Gesicht ist blass, die Augenringe tief, und ihr Schritt ist schwer. Der Fachkräftemangel in Deutschland hat auch hier die Überlastung des Personals zur Norm gemacht.

Eine ernsthafte Krise

Die Geschichte von Berlin, der unvollendeten Baustelle und der müden Pflegerin, ist eine Geschichte von Herausforderungen und Veränderungen. Sie ist ein Spiegelbild der aktuellen Situation in Deutschland, wo der Fachkräftemangel nicht nur in der Baubranche mit rund 300.000 fehlenden Fachkräften, sondern auch im Gesundheitswesen, mit monatlich zehntausenden offenen Stellen, aber auch in vielen anderen Sektoren des Lebens spürbar ist. In einer Zeit des Umbruchs und der Unsicherheit bleibt die Frage: Wie wird Deutschland auf diese Herausforderungen reagieren und seine Zukunft gestalten?

Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) geht derzeit von etwa 2 Millionen vakanten Stellen aus – ein Hinweis darauf, dass diese Herausforderung keine vorübergehende Erscheinung ist, sondern sich zu einer ernsthaften Krise ausweitet. Besonders betroffen sind Berufe im sozialen, gesundheitlichen und technischen Sektor.

Eine der Ursachen für diesen Mangel ist der demografische Wandel. Der sei aber weder neu, noch eine Bedrohung für unseren Wohlstand, sagt ver.di-Chefökonom Dierk Hirschel. "Die Lebenserwartung ist im letzten Jahrhundert um mehr als 30 Jahre gestiegen, während sich der Anteil der Jugendlichen halbiert und die Zahl, der über 65-Jährigen verdreifacht hat. Das hat zu steigenden Versorgungslasten geführt." Im Jahr 1960 kamen auf einen Rentner noch sechs Beitragszahler, heute liegt das Verhältnis bei 1 zu 1,8, so Hirschel. Trotz dieser Herausforderungen ist unser Wohlstand gewachsen – vor allem dank einer immer leistungsfähigeren, erwerbstätigen Bevölkerung.

Hirschel erklärt: "Wenn heute die Zahl der Arbeitskräfte infolge des demografischen Wandels schrumpft, können wir mit Produktivitätswachstum, höherer Frauenerwerbstätigkeit, der Arbeitsvermittlung von Erwerbslosen, mehr Aus- und Weiterbildung, altersgerechten Arbeitsbedingungen und Einwanderung gegensteuern." Hierzulande gäbe es Millionen Menschen, die arbeiten bzw. mehr arbeiten wollen, aber nicht können. Wir reden über Frauen in Zwangsteilzeit oder Minijobs, über Erwerbslose, über ältere Arbeitskräfte, die angeblich nicht voll belastbar sind, oder erwerbsfähige Geflüchtete. Verantwortlich dafür sind auch Unternehmen, deren Arbeitsplätze schlecht bezahlt, ungesund und nicht altersgerecht sind. Aber auch die Politik hat versagt.

Ein Fünftel hat keinen Berufsabschluss

Hundertausende Frauen können ihre Arbeitszeit wegen fehlender Kitaplätze und Ganztagsschulen nicht erhöhen. Jedes Jahr verlassen 25.000 Kinder die Schule ohne Abschluss. Ein Fünftel der Arbeitnehmer*innen hat keinen beruflichen oder hochschulischen Bildungsabschluss. "2,5 Millionen Menschen sind heute erwerbslos", erläutert Hirschel. "Darunter 900.000 Langzeitarbeitslose. Sie könnten bei entsprechender Förderung, Ausbildung und Qualifizierung gute Arbeit finden."

Der Fachkräftemangel ist nicht nur ein Problem für Unternehmen, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes. Besonders spürbar ist er nach wie vor im Gesundheitswesen und in der Pflege. Im Jahr 2021 und 2022 wurden monatlich rund 40.000 Stellen ausgeschrieben, jede vierte Stelle blieb länger als zwei Monate unbesetzt. Ein hausgemachtes Problem der Arbeitgeber, die sich gerne mit Verweis auf den Fachkräftemangel aus der Affäre ziehen wollen. Zehntausende Pflegekräfte arbeiten Teilzeit, weil sie die körperlich und psychisch belastenden Arbeitsbedingungen in der Pflege in Vollzeit nicht mehr aushalten. Viele steigen ganz aus dem Beruf aus.

Ein Weg in die Zukunft

Eine Studie zeigt, dass viele Pflegefachkräfte bereit sind, in den Beruf zurückzukehren oder ihre Arbeitszeit aufzustocken, vorausgesetzt, die Arbeitsbedingungen verbessern sich. Etwa 90 Prozent der Ausgestiegenen und 70 Prozent der Teilzeitkräfte könnten gewonnen werden. Bei konservativer Schätzung wären 263.000 zusätzliche Vollzeitstellen möglich, in der optimistischen Variante sogar 583.000, was den Pflegekräftemangel in Krankenhäusern und Pflegeheimen beheben könnte.

Doch Kliniken und Pflegeheime werben stattdessen um Pflegekräfte von den Philippinen und aus Mexiko. Viele, die kommen haben mehrjährige Praxiserfahrung, einen Bachelor und/oder eine vergleichbare Ausbildung als Pflegekraft absolviert. Sie werden häufig jedoch nur als Hilfskräfte eingesetzt – hinzukommt, dass die Arbeitsbedingungen für die ausländischen Arbeiter*innen häufig noch schlechter als für die deutschen Pfleger*innen sind. Sie berichten von Heimweh, Diskriminierung und Ausbeutung.

Die deutsche Regierung glaubt, dass die Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte der Schlüssel zum Überwinden des Fachkräftemangels darstellt. Im Juli 2023 hat nach dem Bundestag nun auch der Bundesrat das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen, das den Zugang für qualifizierte Fachkräfte aus Nicht-EU-Ländern zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtern soll. Eine sogenannte "Chancenkarte", die auf einem Punktesystem basiert, soll die jährliche Zuwanderung um bis zu 60.000 Personen steigern und Unternehmen einen erweiterten Pool an Arbeitskräften bieten.

Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz bewertet Faktoren wie Qualifikation, berufliche Erfahrung, Deutschkenntnisse, persönliche Bindungen zu Deutschland und Alter. Außerdem rückt die Berufserfahrung stärker in den Fokus, und es wird die Möglichkeit geschaffen, dass Zuwanderer*innen mit anerkanntem Abschluss auch in anderen qualifizierten Berufsfeldern arbeiten können. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) verspricht, dass das "bestehende Fachkräfteeinwanderungsgesetz massiv entbürokratisiert wird und Schwellen gesenkt werden". Auch wolle die Regierung dafür sorgen, dass Menschen mit Ausbildung und Berufserfahrung nicht erst ein langes Anerkennungsverfahren durchlaufen müssen.

Ein weiterer Schritt ist das "Chancen-Aufenthaltsrecht". Es soll ermöglichen, dass Menschen, die bis zum 1. Januar 2022 lediglich den unsicheren Status der Duldung in Deutschland hatten, auf Probe eine auf 18 Monate befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten. In dieser Zeit müssen sie nachweisen, dass sie die deutsche Sprache beherrschen und ihren Lebensunterhalt eigenständig sichern können, um ein langfristiges Bleiberecht zu erlangen. Das Risiko für Unternehmen, eine geduldete Person einzustellen, ist hoch. Das Chancen-Aufenthaltsrecht soll mehr als 130.000 Menschen in Deutschland eine Perspektive bieten.

Das reicht aber nicht. Wir müssen endlich die vielen inländischen Arbeitskräfte, die arbeiten wollen, aber nicht können, in Arbeit bringen, so Hirschel. Deswegen ist die Fachkräfteeinwanderung als nur ein kleiner Baustein, um den Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften zu decken und die Wirtschaft anzukurbeln.

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