Ausgabe 06/2023
Sie kommen, um zu bleiben
Gewusel im Empfangssaal der mexikanischen Botschaft in Berlin Tiergarten. Über 60 junge Mexikaner*innen sind einer Einladung der Botschaft Anfang Januar gefolgt. Es sind studierte Krankenschwestern, angeworben in Mexiko, um dem chronischen Pflegenotstand in Deutschland zu begegnen. Ein Gesandter der Botschaft grüßt die Anwesenden herzlich, macht Späße und kommt dann auf den Punkt: "Dieses Treffen soll euch helfen, mit euren Erwartungen umzugehen und vulnerablen Situationen vorbeugen."
Heimweh, Diskriminierung, Ausbeutung am Arbeitsplatz. Den Inhalten der Vorträge nach zu urteilen, macht sich die Botschaft keine Illusionen über die Probleme, die in Deutschland auf junge ausländische Pflegekräfte warten. Aranis, eine 34-jährige Pflegerin aus Mexiko-Stadt ist hingegen überrascht: "Ehrlich gesagt hat es mich schon sehr gewundert, dass diese Probleme so eine große Rolle gespielt haben." Aranis, die ihre rotgefärbten Haare zum Zopf gebunden hat, wurde von der Charité in Mexiko angeworben und hat dann dort etwa ein halbes Jahr Deutsch gelernt. Vor wenigen Wochen ging es für sie dann nach Berlin. Nun wartet sie auf den Anruf der Charité, um endlich loslegen zu können.
Die Charité und andere Unternehmen aus dem Pflegewesen werden von der Bundesagentur für Arbeit bei dem Anwerbungsprozess im Ausland unterstützt. Zwischen 2018 und 2023 sind so laut Angaben der Bundesagentur für Arbeit 634 Pflegekräfte aus Mexiko nach Deutschland gekommen. Tendenz steigend. Nur aus den Philippinen und Bosnien und Herzegowina kommen mehr.
"Ich bin mit dem Plan gekommen, hier noch eine Spezialisierung zu machen, weil meine Spezialisierung aus Mexiko hier nicht anerkannt wird. Das darf eigentlich nicht wahr sein."
Aranis, 34, Krankenpflegerin aus Mexiko
Mexikos Pflegekräfte gelten als hoch qualifiziert. Pflege ist dort ein etabliertes Studium, viele der Angeworbenen bringen außerdem jahrelange Berufserfahrung mit. Das niedrige Lohnniveau für Krankenpfleger*innen in Mexiko dürfte dazu beitragen, dass viele Interesse an dem Programm zeigen. Was die Statistik der Bundesagentur für Arbeit allerdings nicht erfasst, ist, wie es den angeworbenen Pflegekräften hier ergeht und wie lange sie eigentlich in Deutschland bleiben.
Depressionen und drohender Visumsverlust
"Von denen, mit denen ich gekommen bin, ist fast niemand mehr in Deutschland", sagt Lucero, während sie zielstrebig durch das Bahnhofsviertel von Hamm läuft. Die 29-jährige Pflegerin mit wachen Augen und Nasenpiercing wurde 2018 mit rund 60 mexikanischen Kolleg*innen in Mexiko angeworben. Die Anwerbung erfolgte, anders als bei Aranis, durch Alloheim, das zweitgrößte private Pflegeunternehmen des Landes mit knapp 300 Standorten. Einer dieser Standorte, die Seniorenresidenz am Kurpark in Hamm, wird für Lucero in den darauffolgenden Jahren zu einer Falle. Eine Falle, aus der sie sich trotz Depressionen, Sprachbarrieren und drohendem Visumsverlust durch ihre Kündigung im Herbst 2021 befreien konnte. Sie willigt ein, ihren alten Arbeitsort ein letztes Mal zu besuchen, um über ihre Erfahrungen zu sprechen
Auf dem Weg erinnert sich Lucero, die inzwischen fließend Deutsch spricht, an ihre ersten Eindrücke von damals und muss schmunzeln. Es war ihr erstes Mal in einem anderen Land. "Es war mein erster Kontakt mit Deutschland, und ich dachte boah ey, voll schön hier, spitze!" Auch die Seniorenresidenz schien schicker als die, die sie aus Mexiko kannte. Lange hält dieser Eindruck allerdings nicht. "Es hat eine Woche gedauert. Sobald ich in diesem Altersheim gearbeitet habe, dachte ich mir, es hat gar nichts, gar nichts damit zu tun, was ich wollte."
"Es hat eine Woche gedauert. Sobald ich in diesem Altersheim gearbeitet habe, dachte ich mir, es hat gar nichts, gar nichts damit zu tun, was ich wollte."
Lucero, 29, Pflegekraft aus Mexiko
Die Arbeitsbedingungen schockieren Lucero, die eigentlich einiges aus Mexiko gewohnt war. Die versprochene 40-Stunden Woche Fehlanzeige. Stattdessen: chronischer Personalmangel, Überstunden, spontane Schichtänderungen, Sprachprobleme und kaum Unterstützung für die gerade angekommenen Mexikanerinnen. "Ich dachte mir, wo sind die ganzen Sachen, die mir versprochen wurden? Auch die Wohnsituation entwickelt sich schnell zum Problem. Lucero wird mit zwei Kolleginnen in einem kleinen Zimmer untergebracht, das eigentlich für Senioren vorgesehen ist – ohne Privatsphäre und immer verfügbar für die Arbeitgeber.
Die erste Arbeitswoche
Aranis wiederum in Berlin kann über mangelnde Distanz zum Arbeitsplatz nicht klagen, ganz im Gegenteil: Die Charité hat ihr und neun anderen Mexikaner*innen jeweils eine Wohnung in der Großwohnsiedlung Gropiusstadt vermittelt. Um von dort zum Benjamin-Franklin Krankenhaus in Steglitz zu kommen, muss sie dreimal umsteigen, etwa eine Stunde ist sie unterwegs. Doch an lange Fahrten ist sie gewöhnt, denn sie ist in der Peripherie von Mexiko-Stadt aufgewachsen. Zu ihrem langjährigen Arbeitsplatz, eine Tumor-Klinik in der Innenstadt, war der Weg noch viel länger.
Etwa einen Monat nach ihrem Besuch bei der Botschaft steckt Aranis inzwischen in ihrer ersten Arbeitswoche. Um rechtzeitig zur Frühschicht zu kommen, muss Aranis um 4 Uhr morgens aufstehen. "Jetzt bloß nichts vergessen", murmelt sie und macht sich auf den Weg. Draußen auf dem Weg zur U-Bahn ist es noch stockdunkel und kalt. Im Krankenhaus angekommen, zieht Aranis sich schnell um und läuft zu ihrer Station: Die Onkologie und Palliativmedizin. Die meisten Patient*innen schlafen noch, die erschöpften Kolleg*innen der Nachtschicht freuen sich auf die Ablösung.
Auf der Station werden vor allem Menschen behandelt, die unheilbar an Krebs erkrankt sind. Es geht darum, Schmerzen zu lindern, Lebensqualität zu geben und ihnen so gut es geht beizustehen. Doch das Beistehen ist ein sprachlich sensibler Akt, bei dem ihr mit ihrem B1-Deutschniveau manchmal die Wörter fehlen. "Bei einer Patientin hat sich der Zustand heute rapide verschlechtert, das Einzige, was ich machen konnte, war ihr meine Hand zu geben."
Die Charité hat ein sogenanntes Welcome-Team eingerichtet, um den ausländischen Pflegekräften wie Aranis den Start einfacher zu machen. Die sechs Teammitglieder holen die Neuankömmlinge vom Flughafen ab, helfen durch den deutschen Behörden-Dschungel und machen Stationsbesuche. Eine von ihnen, Frau Türk, kommt heute auf der Station von Aranis vorbei. "Also Aranis hat eine Krankenkasse, ein Bankkonto, einen Handyvertrag und ein Apartment und einen Mietvertrag und diese ganzen Sachen. Und jetzt fehlt halt noch der Prozess der Berufsanerkennung", sagt sie.
Doch gerade die Berufsanerkennung hat es in sich. Aranis muss in den ersten zwei Berufsjahren einen 6-monatigen Anpassungslehrgang abschließen. Erst dann bekommt sie eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung, die unabhängig vom Arbeitgeber gilt. Und erst dann bekommt sie auch ein höheres Gehalt. Denn trotz Studiums, jahrelanger Arbeitserfahrung und beruflicher Spezialisierungen startet sie hier in der niedrigsten Gehaltsstufe mit knapp 2.600 Euro brutto im Monat.
Am Ende des Monats bliebe da – nach Miete und Lebenshaltungskosten – nicht viel übrig für Freizeit oder, um der Familie etwas nach Mexiko zu schicken, erzählt sie, während sie im Flur auf Anweisungen der Stationsleitung wartet. In Mexiko habe das schon nach mehr geklungen, räumt sie ein und lacht dabei ein bisschen sarkastisch. Nach der abgeschlossenen Berufsanerkennung kann sich Aranis dann innerhalb der Europäischen Union "Krankenpflegerin" nennen. Allerdings: Krankenpflegerin ohne Spezialisierung: "Ich bin mit dem Plan gekommen, hier noch eine Spezialisierung zu machen, weil meine Spezialisierung aus Mexiko hier nicht anerkannt wird. Das darf eigentlich nicht wahr sein", sagt sie leicht frustriert.
Die Hürden
Dass diese Regelungen ausländische Pflegekräfte davon abschrecken können, überhaupt erst nach Deutschland zu kommen, ist offensichtlich. Nicht zuletzt, um bürokratische Hürden abzubauen, verkündete Bundesinnenministerin Nancy Faeser, SPD, unbescheiden am 23. Juni 2023 das "modernste Einwanderungsrecht der Welt". Sie meint die Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes, die der Bundestag am selben Tag beschlossen hatte und die im November 2023 in Kraft treten soll.
Was verbessert sich für ausländische Pflegekräfte wie Lucero oder Aranis? Nicht viel, glaubt Romin Khan, Experte für Migrationspolitik bei ver.di: "Die Reform dürfte zwar die ersten Schritte der Einwanderung von ausländischen Pflegekräften vereinfachen, doch die Prozesse beruflicher Anerkennung bleiben für reglementierte Berufe wie die Pflege unverändert kompliziert." Es fehle außerdem an verbindlichen Integrationsmaßnahmen von Arbeitgeberseite, etwa Freistellungsmöglichkeiten für Spracherwerb oder Unterstützung bei der Wohnungssuche, so Khan.
Lucero hätten solche Unterstützungsleistungen den Start deutlich einfacher gemacht. Dass sie heute noch in Deutschland ist und sogar eine Berufsanerkennung hat, ist ein kleines Wunder. Inzwischen steht sie direkt vor der Alloheim-Residenz ihres alten Arbeitgebers. "Hier an der Ecke haben wir gewohnt", erklärt sie und zeigt auf den Trakt, in dem sie mit den beiden Mexikanerinnen untergebracht war. Es ist das erste Mal seit ihrer Kündigung, dass sie wieder hier ist und das weckt hässliche Erinnerungen.
Im Spätsommer 2019, wenige Wochen nach ihrem Start bei Alloheim, klopft ein Vorgesetzter an die Tür des Zimmers, um Lucero zu einer Schicht zu holen. Doch Lucero steht in BH und Unterhose im Raum und reagiert nicht auf das Klopfen. Auch, weil sie schon ahnt, sonst wieder einspringen zu müssen. Der Vorgesetzte platzt trotzdem in den Raum und fährt sie an, der Schichtplan habe sich geändert und sie habe sofort zu arbeiten. Lucero bleibt nichts anderes übrig, als sich anzuziehen und ihre Schicht zu beginnen. Noch heute kommen ihr Tränen vor Wut, wenn sie von dieser Demütigung erzählt: "Ich habe nie eine Entschuldigung bekommen oder irgendwas Menschliches."
Lucero erzählt, sie rutschte in den Monaten danach in eine Depression und sei völlig verzweifelt gewesen. Es ist eine ähnliche Geschichten wie die der anderen Mexikaner*innen, die gleichzeitig angefangen haben für Alloheim in ganz Deutschland zu arbeiten. Fast alle entscheiden sich über kurz oder lang Deutschland den Rücken zu kehren. Wenn man heute bei Zurückgekehrten in Mexiko nachhakt, warum, beschreiben viele die gleiche Sackgasse wie Lucero: "Ich habe einfach nie frei bekommen, um den Anpassungslehrgang zur Berufsanerkennung zu machen."
Die Abhängigkeiten
Lucero glaubt, darin ein System zu erkennen: Ohne Berufsanerkennung bleiben die Pflegekräfte in der niedrigsten Gehaltsklasse – und in einer Abhängigkeitssituation bezüglich ihres Aufenthaltsstatus. Denn ihr Arbeitsvisum, genauso wie das von Aranis und anderen ausländischen Kolleg*innen, bleibt bis zur Berufsanerkennung an ihren Arbeitgeber gebunden. Kündigen und den Arbeitgeber wechseln ist also keine Option. Zurück nach Mexiko fliegen auch nicht, denn Lucero ging damals davon aus, den Flug selbst bezahlen zu müssen.
Romin Khan überraschen diese Schilderungen nicht: "Die Arbeitgeberbindung des Visums bietet ein Erpressungspotential, das Unternehmen wie Alloheim systematisch ausnutzen." Gerade Alloheim habe in der Branche keinen guten Ruf. Und das sei kein Zufall: Das Unternehmen wurde 2017 vom Private Equity Fond Nordic Capital gekauft: "Solche Fonds mit Risikokapital sind darauf spezialisiert Unternehmen zu kaufen, sie wirtschaftlich profitabel zu machen und anschließend wieder abzustoßen. Hier wird ohne Rücksicht auf Verluste rationalisiert, auf Kosten der Pflegekräfte und der Pflege", erklärt Khan.
Bei Lucero platzt nach einem Jahr der Knoten: Sie nimmt all ihren Mut zusammen und droht der Chefin zu kündigen, wenn sie nicht frei bekommt für den Anpassungslehrgang. Außerdem kündigt sie an, die Zustände im Unternehmen publik zu machen. Noch heute wirkt sie verdutzt, dass der Plan aufging: Plötzlich bekommt sie Zeit für den Anpassungskurs und schließt ihn erfolgreich ab. Und ein Freund vermittelt ihr schließlich anwaltliche Hilfe durch ver.di. So gelingt es ihr im November 2021 den Job zu wechseln und ihr Visum zu erneuern. Am Ende gewinnt sie auch noch ein Gerichtsverfahren gegen Alloheim. Die hatten ihr letztes Monatsgehalt einfach einbehalten.