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Sonja Voß-Scharfenberg (li.) und Bianka HadlerFoto: Christian Jungeblodt

Dass der Tag kommen wird, an dem die Eltern ihren Alltag nicht mehr selbstbestimmt bewältigen können, ist jedem klar. Dennoch sind wir da wahre Verdrängungskünstler. Kaum jemand hat eine klare Vorstellung davon, was es im Einzelnen bedeutet, wenn Mutter oder Vater oder gar beide gepflegt und täglich unter­stützt werden müssen. Betroffene raten oft zum Plan B, den man in petto haben sollte. Hat aber meist niemand. Und am Ende steht man unvorbereitet vor vollendeten Tatsachen.

Den Autorinnen Bianka Hadler (65) und Sonja Voß-Scharfenberg (67) sind diese Tatsachen wohl vertraut. Bianka hat 12 Jahre in der mobilen Altenpflege gearbeitet, ihre Lebensgefährtin Sonja hat die eigene Mutter gepflegt. Beide leben in Schwerin. Dort wohnt das Paar in der gleichen Straße; sie können sich vom Fenster aus zuwinken. Bei unserem Gespräch stehen beide noch unter dem Eindruck ihrer Lesung vom Vorabend. Die Schweriner Buchhandlung ­littera et cetera war „rappelvoll“, der Abend „überwältigend“.

„Das wollte aus mir raus“

Die Idee mit dem Buch sei Anfang 2023 entstanden, erzählt Bianka: „Diese Jahre in der Pflege steckten noch in mir drin. ­Irgendwann hatte ich einen Text über die Anfänge meiner Pflegetätigkeit geschrieben. Dazu hatte ich jede Menge Briefe, Einkaufszettel, kleine Nachrichten, Grüße und E-Mails von Patient*innen auf­gehoben, darunter auch strenge Anweisungen. Und damit wollte ich noch was machen; das wollte aus mir raus. Ich habe jeden Morgen geschrieben, Sonja nichts gesagt, ihr es erst am Ende gezeigt. Und sie meinte, das müsse zu einem Verlag. Sonja legte ihre eigenen Kurzgeschichten dazu. Zurück meldete sich der kleine Wieden Verlag.“

„Es braucht Mut, diese Texte zu schreiben und zu hören, wie es auch den Mut braucht, alt zu sein.“Sonja Voß-Scharfenberg

Und so erschien im September letzten Jahres ihr Buch „Zehn nach elf – Vom Altsein“ mit insgesamt sechs Kurzgeschichten, die es in sich haben. Die ­Erzählungen überraschen mit großer lite­rarischer Kraft, mit Wärme und intensiven Bildern, die direkt unter die Haut gehen. Sie erzählen in klaren Worten vom Pflegen und vom Fluchen, von Liebe und Ekel, vom Erinnern und Vergessen, von Pudding und von Windeln.

Den schonungslosen Auftakt setzt ­Sonjas Geschichte „Das Alter“. Darin ­dämmert ihren Geschwistern und ihr zunehmend, wie sich das Verhältnis zur ­Mutter umgekehrt hat. Sie hat beginnende Demenz, glaubt aber selbst, so weit sei sie noch nicht. Für alle Beteiligten beginnt ein Ringen um Autonomie. Wie sehr sich auch alle kümmern, es ist nie gut genug, und die ständige Frage der Mutter lautet: „Und wer (von euch) kommt morgen?“ Das treibt die Seele an Grenzen. „Am Ende von ‚Das Alter’ applaudiert nie jemand“, erzählt Sonja, „die sitzen alle erstmal wie vom Donner gerührt. Neulich hat jemand gefragt: ‚Woher kennen Sie meine Mutter?’“

Greif’ zur Feder, Kumpel!

Sonja schreibt „seit ich schreiben kann“: „Ich bin im Osten sozusagen über den Bitter­felder Weg gegangen. Das war eine Konferenz für die Bewegung der schreibenden Arbeiter, die hieß ,Greif’ zur ­Feder, Kumpel!‘. Damals brachte man Schriftsteller*innen in die Großbetriebe, damit sie mit den Themen der Arbeiterklasse in Berührung kamen und sich die Werktätigen im Schreiben versuchen konnten. Ich habe in so einem Betrieb Büro­kauffrau gelernt.“ Das war im VEB Hydraulik Schwerin.

Der Schreib-Zirkel wurde Sonjas Rettung: „Mein Beruf war für mich einfach scheußlich.“ Sie ging zum Fern­studium an das Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig. „Das war das kleinste Institut der DDR. Dann ging das immer so weiter mit dem Schreiben, aber nicht ­professionell, und ich musste weiter als Bürotante arbeiten.“ Sie blieb Bürokauffrau, wechselte aber ins Bezirkskabinett für Kulturarbeit, Ressort „Künstlerisches Wort“, wo sie bis zur Wende Workshops und große Veranstaltungen organisierte: „Wir haben die Volkskunst ganz schön ernst genommen. Bis dann hier ’89 alles zu Ende ging“, sagt sie.

Nach der Wende hat Sonja emotional nicht recht Fuß fassen können. Sie wurde arbeitslos und hatte zwei Kinder. Auch durch die ABM-Maßnahmen wurde es nicht besser, jeder weitere Job war be­fristet. Da ist eine glückliche Beziehung wichtig, wie die zu Bianka. Zusammengeführt hat sie, natürlich, das Schreiben. Zuerst waren es E-Mails: „Wir haben letztes Jahr unser 20. Jubiläum gefeiert. Ich habe mich über die Schriftsprache in sie verliebt, habe mich geoutet. Bianka wollte sich dann gleich mit mir treffen.“ Die beiden ergänzen sich. Sonja liest Bücher, Bianka lieber Zeitschriften. Sonja ist bei ver.di, aber Bianka liest die ver.di publik. „Ich bleibe in der Gewerkschaft“, sagt Sonja, „das ist mein letzter Rest von Aufmüpfigkeit.“

Schwer, ekelhaft und ungerecht

Auch Biankas Werdegang wurde durch die Wende zerrissen. Geboren im mecklenburgischen Goldberg, machte sie ­Abitur in Lübz und ging an die Fachhochschule für Bibliothekare in Leipzig: „Ich habe alle zehn Jahre was anderes gemacht, ohne das zu forcieren“, blickt sie zurück. Von der Stadt- ging sie zur Hochschulbibliothek, bis nach der Wende die vielen ausgebildeten Bibliothekare, darunter auch sie, abgewickelt wurden.

Es folgten zehn gut abgesicherte Jahre im Außendienst einer gesetzlichen Krankenkasse. Doch dann gibt es eine Angehörige zu pflegen, Bianka übernimmt ­diese Aufgabe. Für zehn Jahre. „Wenn man eine Pflege übernimmt“, sagt sie, „dann weiß man nicht, wie lange es dauern wird. Das muss jedem klar sein.“ Sonja ergänzt: „Jemanden zu pflegen ist schwer, es ist ekelhaft, ungerecht, und der zu ­pflegende Mensch kann natürlich auch nichts dafür, wenn er da in seinem Elend hockt.“

Bianka wechselt schließlich als „Ungelernte“ in die Pflege: „Damals hat man damit noch so wenig verdient, ich war Aufstockerin.“ Um die Grundlagen zu erlernen, absolviert sie das kleine Examen zur Kranken- und Altenpflege-Assistentin. Und schon waren wieder zehn harte Jahre um. Das Paar beginnt, sich über die Rente zu unterhalten. Für viele berufstätige ­Frauen und Männer aus der DDR ein ­bitteres Kapitel. Ohne den Luxus einer ­linearen Erwerbsbiografie fällt auch die Rente nicht üppig aus: „Meine Studienzeiten aus der DDR wurden nicht angerechnet, diese drei Jahre fehlen. Aber die Corona-Jahre haben mich so müde gemacht. Ich habe mich mit der Entscheidung gequält. Denn ausgerechnet jetzt, wo dieser Beruf endlich Geld einbringt, ist meine Kraft nicht mehr da“, erzählt sie.

Eine ihrer Erzählungen heißt „Gepflegt in Rente“. Es ist die längste Geschichte im Buch. Die Schilderung ihrer Tätigkeiten als mobile Altenpflegerin schlägt die Leser in ihren Bann. Allein die besagten Notizen, Zettel und Anweisungen ihrer zu Pflegenden hintereinander weggelesen, zeigen die stressige Abfolge von Aufgaben, ­saugen Sie hier, machen Sie mal da, die ganze knallharte Belastung des Berufs. Sonja sagt: „Es braucht Mut, ­diese Texte zu schreiben und zu hören, wie es den Mut braucht, alt zu sein.“

Die große Resonanz auf ihre Lesungen würdigt nicht nur die literarische Leistung, die in den Erzählungen steckt, sondern auch eine Care-Arbeit, so schwer, dass sie allein in geschulte Hände und gesellschaftlich höher wertgeschätzt gehört. Diese Kurzgeschichten machen es dringlich, sich besser früher als später mit dem Altwerden und dem Altsein zu beschäftigen. Schnell hat man es dann nämlich doch wieder verdrängt.

Und wie haben sich Sonja und Bianka darauf vorbereitet, sollten sie irgendwann mal Pflege benötigen? „Na, gar nicht“, sagt Sonja ganz trocken, „wie alle.“

Bianka Hadler & Sonja Voß-Scharfenberg: ZEHN NACH ELF – VOM ALTSEIN. WIEDEN VERLAG CRIVITZ, 2023, 100 S., 10,80 € ISBN 978-3-982 5570-14

Lesungen von Sonja und Bianka können gebucht werden unter: sonja.gegenwind@t-online.de