Ausgabe 03/2024
Musik
Ernte: Ernte
Das Vibraphon turnt die Tonleiter empor, das Saxophon setzt kleine Nadelstiche, die Klarinette quakt dazwischen und der Bass massiert geduldig den Magen. Die Formation Die Ernte spielt Jazz, klar, aber dann plötzlich schimmert da diese Melodie durch das vom Chaos zur Struktur und wieder zurück tänzelnde Arrangement. Ist das nicht dieses alte Arbeiterkampflied? Ein Widerstandslied aus Portugal? Das Lied der französischen Partisanen? Ist das nicht Ernst Busch? Das Friedenslied von Paul Dessau? Aber wo sind die Texte geblieben?
Ernte – das ist ein Quintett gestandener Jazzmusiker*innen aus Deutschland, der Schweiz und Griechenland, die sich – wie im Jazz üblich – in vielen verschiedenen anderen Bands und Zusammenhängen einen Namen gemacht haben. Vor allem aber, so formuliert es Benjamin Weidekamp, zusammen mit dem ebenfalls in Berlin lebenden Uli Kempendorff der Initiator des Projekts, „der Versuch herauszufinden, ob die Stücke, die wir spielen, ihre inhaltliche Kraft in der Instrumentalversion behalten beziehungsweise was von dieser Kraft bleibt.“ Auf jeden Fall hat man Die Moorsoldaten oder Dem Morgenrot entgegen noch nie so gehört wie auf dem Debütalbum von Ernte, noch nie so fantasievoll und aufregend, melodiereich und üppig. Und eben ohne ihre Texte, die diese Stücke aber ja eigentlich erst zu dem machen, was sie sind: Musik mit Geschichte, mit politischer und gesellschaftlicher Relevanz, ja vielleicht sogar mit revolutionärer Durchschlagskraft. Also, Herr Kempendorff, geht da nicht die wichtigste Eigenschaft dieser Musik verloren? „Jein. Musik kann entschlossen oder verzagt klingen und ihre Hörer*innen in bestimmte Stimmungen versetzen. Ob diese Stimmungen sich in revolutionäre Aktion übersetzen können, liegt allein am Kontext, am Umfeld und am Moment.“ Musik als Soundtrack also, vielleicht als Katalysator. Ernte spielen einerseits mit den Bedeutungsebenen der alten Stücke, nehmen ihnen aber auch einiges von ihrer Bedeutungsschwere – und lassen so einen neuen Blick zu auf die alten Stücke, auf ihre Historie und auf ihren tatsächlichen musikalischen Wert. Das Stück Die Moorsoldaten bleibt trotzdem bedrückend, die, sagt Kempendorff, „subversive Ironie wie beim ‚Marsch’ von Mauricio Kagel überträgt sich auch ohne Worte und Erklärungen“. Tatsächlich: So unermüdlich Saxophon und Vibraphon gegen den Marschrhythmus arbeiten, wird dazu niemals jemand in den Krieg ziehen können. Thomas Winkler
Enja/Yellowbird
Hotel Bossa Nova: Trés Maneiras
Ein Hotel, in das Sie jederzeit ohne Voranmeldung einchecken können: das Hotel Bossa Nova. Das portugiesisch-deutsche Quartett aus Wiesbaden spielt seit seiner Gründung im Jahr 2005 einen Mix aus sommerleichten Latin-Grooves und jazzigen Improvisationen. Diesen modernen und durch zahlreiche Tourneen bewährten Stil bezeichnet die Band selbst als „European Bossa Nova“. Der Wechsel der Tempi und Stimmungen, und nicht zuletzt der Zauber verschiedenster brasilianischer Rhythmen sorgen für reichlich Abwechslung, woran auch Liza da Costa, die gut aufgelegte Sängerin mit portugiesisch-indischen Wurzeln großen Anteil hat. Dazu das Klangfarben-Spektrum aus Gitarre, Bass, Percussion, Keyboards und Viola. Alles in einem gekonnten Wechselbad aus Vitalität und Coolness. Vom überwiegend fröhlichen Charakter der Songs sollte man sich allerdings nicht täuschen lassen, denn emotionaler und auch mal nachdenklicher, melancholischer Tiefgang ist für das Quartett ganz selbstverständlich. Bleibt nur noch der Wunsch nach einer Hotel-Lobby, die mit einer solchen musikalischen Qualität aufwartet und ihre Gäste begrüßt. Peter Rixen
enja/Soulfood
Peggy Gou: I hear you
Lenny Kravitz ist dabei. Aber dass die Lederhosenlegende im Duett singt mit Peggy Gou, das führt ziemlich in die Irre. Denn mit Rockmusik hat die Wahlberlinerin so gar nichts am Hut. Stattdessen bringt sie als DJ in den coolsten Clubs der Welt die Menschen zum Tanzen, und die von ihr produzierten Tracks schießen an die Spitze der Dancefloor-Hitlisten. Seit gut zehn Jahren gelingt der 1991 als Kim Min-ji geborenen Südkoreanerin ein seltener Spagat: Die tanzenden Massen lieben sie, aber ihre elektronische Musik gilt trotzdem noch als Underground, sie selbst als cooler Geheimtipp. Der Trick: Einerseits verbreiten ihre Stücke einen sommerlichen Vibe, der selbst in einer Rum-Werbung nicht verkehrt wäre. Andererseits spielt sie mit koreanischen Einflüssen; mal sind ihre Stücke fast zu eingängig wie der sich freizügig bei Euro-Dance-Klischees bedienende Hit „(It Goes Like) Nanana“ mit, ja eben, Nanana-Refrain, dann wieder scheint sie die Pop-Charts stürmen zu wollen. Ihr Debütalbum I Hear You erfüllt jetzt alle Erwartungen, die sie mit Auftritten und Singles bislang geschürt hat: Mit Peggy Gou kann man beides – Charts toppen und Nächte durchtanzen. Thomas Winkler
XL/Beggars Group/Indigo