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Erinnerungsstücke von HolocaustopfernFoto: Douglas Abuelo/Polaris/laif

Es war der 2. Mai 1933, an dem Schläger­trupps der SA die Gewerkschaftshäuser stürmten und eine Verhaftungswelle ­gegen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter begann. Wenig später entstanden in Dachau und Esterwegen im Emsland die ersten größeren Konzentrationslager, in denen Gewerkschafter*innen und politischen Gegner der Nazis inhaftiert wurden. Die Gewerkschaften als Massenorganisationen der Arbeitnehmer wurden für die Errichtung der Diktatur zuerst ausgeschaltet. Das Drehbuch dafür war einfach: Gewerkschaftshäuser besetzen, Vermögen beschlagnahmen, Verhaftungen durchführen, Konzentrationslager errichten, Rest der organisierten Arbeitnehmer in eine NS-Organisation zwingen: Die „Deutsche Arbeitsfront“. Statt ADGB für „Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund“ jetzt „DAF“. Was 1933 in den ersten Konzentrationslagern begann, endete 1945 nach „Vernichtung durch Arbeit“ und Vergasung im Schlussakkord der Todesmärsche.

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Jens-Christian Wagner, Stiftungsdirektor der KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-DoraFoto: Schutt/picture alliance/dpa

ver.di publik: Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus wird von Rechtspopulisten und -extremisten diffamiert als „Schuldkult“ und „Erinnerungsterror“. Gedenkstätten und ihre Mitarbeiter, aber auch andere Akteure der Erinnerungskultur sind Schmähungen und Drohungen ausgesetzt. Warum ist die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus nach wie vor unverzichtbar für unser Land?

Jens-Christian Wagner: Zum einen sind wir es den NS-Verfolgten schuldig, sie zu würdigen. Zum anderen ist die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen grundlegend für unser demokratisches Selbstverständnis. Eine grundlegende Lehre aus den NS-Verbrechen sind die Achtung von Demokratie und die unteilbaren Menschenrechte, wie sie 1948/49 in den Grundrechtsartikel des Grundgesetzes festgeschrieben wurden. Wer die Grundrechte einschränken, wer rassistisch gegen Migrant*innen vorgehen möchte und einen autoritären, illiberalen Staat herbeisehnt, muss die Lehren aus der NS-Zeit überwinden und die Axt anlegen an unsere Erinnerungskultur. Anders formuliert: Wer extrem rechten ­Ideologien und damit Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus das Wort redet, muss den Makel, mit dem diese Ideologien seit dem NS-Terror belegt sind, beseitigen, indem er die NS-Verbrechen kleinredet oder gar leugnet – oder indem er sie relativiert und mit anderen tatsächlichen oder angeblichen Verbrechen anderer Systeme oder Epochen gleichsetzt oder aufrechnet, etwa mit dem Stalinismus, dem Mord an der indigenen Urbevölkerung Amerikas, dem US-Gefan­genenlager Guantanamo oder, sehr verbreitet in den vergangenen drei Jahren, der angeblichen „Corona-Diktatur“.

Die Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Terrorherrschaft zu verharmlosen, reicht von der schlichten Leugnung über die Relativierung und über den Zweifel bis zur Fälschung von historischen Tatsachen.

Der Geschichtsrevisionismus hat viele Gesichter. Klassisch sind Legenden, die den nationalsozialistischen Raub- und Vernichtungskrieg umdeuten zu einem Verteidigungskrieg gegen die Briten, Polen oder auch die Sowjetunion – und natürlich gegen die angebliche jüdische Weltverschwörung. Diese Legenden wurden bereits von der NS-Propaganda verbreitet und werden bis heute vom rechten Geschichtsrevisionismus immer wieder aufgewärmt. Sehr beliebt sind unter extrem Rechten Mythen, die die Alliierten als die eigentlichen Kriegsverbrecher darstellen – mit Blick auf die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten etwa oder auf den alliierten Luftkrieg gegen deutsche Städte, und das häufig mit stark überhöhten Opferzahlen. Das schließt an antiwestliche Geschichtsbilder der DDR an und ist deshalb vor allem unter Rechtsextremen in Ostdeutschland verbreitet.

Zunehmender Beliebtheit erfreut sich unter rechten Geschichtsrevisionisten auch die Behauptung, die Nazis seien gar keine Rechtsextremen, sondern Linke gewesen. Schließlich hätten sie sich ja auch NationalSOZIALISTEN genannt. Diese Behauptung verbreitet sich seit einigen Jahren rasend schnell im Netz. Verbreitet wurde sie unter anderem von Erika Steinbach, Björn Höcke und anderen AfD-Funktionär*innen und Vertreter*innen der Neuen Rechten. Die Absicht ist klar: Wenn man den Rechtsextremismus salonfähig machen will, muss man ihn vom Makel der NS-Verbrechen befreien, also behauptet man einfach, die Nazis seien Linke gewesen – und das gegen jede historische Evidenz, denn Linke – Kommunist*innen, Sozialdemokrat*innen und Gewerkschafter*innen – waren bekanntlich die ersten Opfer der Nazis, und der Antikommunismus beziehungsweise Antibolschewismus gehörte mit dem Antisemitismus zum Kern ihrer Ideologie.

Welche Beispiele der Geschichtsverdrehung können Sie aus Ihrer Praxis nennen?

Zu den Versuchen, die Alliierten als die eigentlichen Kriegsverbrecher darzustellen, gehört die Legende von den Rheinwiesenlagern, von der ich in meiner Zeit als Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen erstmals gehört habe und die sich in den vergangenen Jahren in extrem rechten Kreisen stark verbreitet hat: Die Rheinwiesenlager waren improvisierte, von den Westalliierten im Frühjahr 1945 entlang des Rheins eingerichtete Kriegsgefangenenlager, in denen etwa 7.000 bis 10.000 deutsche Kriegsgefangene aufgrund schlechter hygienischer Bedingungen, Kälte und an Kriegsfolgen starben. Die Legende behauptet, in den Rheinwiesenlagern seien 1 Million, teils sogar bis zu 6 Millionen Deutsche zu Tode gekommen, es sei ein Holocaust an den deutschen Kriegsgefangenen gewesen. Manchmal wird gar behauptet, die Alliierten hätten tote deutsche Kriegsgefangene in KZ-Kleidung gesteckt und sie dann in Bergen-Belsen als Opfer der SS ausgegeben – vollkommen absurde Mythen, die sich aber im Internet und in Social-Media-Blasen immer weiter ausbreiten und von vielen geglaubt werden.

„Zunehmender ­Beliebtheit erfreut sich unter rechten Geschichtsrevisionisten auch die ­Behauptung, die Nazis seien gar keine Rechts­extremen, sondern Linke gewesen.“

In der digitalen Medienwelt ist es ­notwendiger denn je, fundierte Forschungsergebnisse mit Quellen zu benennen. Was ist der gegenwärtige Stand der Forschung hinsichtlich der Gewerkschafter*innen und den politisch Verfolgten in der NS-Zeit?

Die Zerschlagung der freien Gewerk­schaften und der Arbeiterbewegung war zentraler Bestandteil der „nationalen ­Revolution“, wie die Nazis ihre Machtübernahme im Frühjahr 1933 nannten. Am 1. Mai 1933, erstmals ein reichsweiter Feiertag, begingen sie noch den „Tag der deutschen Arbeit“, ein propagandistisches Integrationsangebot an die arbeitenden „Volksgenossen“. Am nächsten Tag, dem 2. Mai 1933, stürmten SA, SS und Polizei überall in Deutschland Gewerkschaftshäuser und nahmen Gewerkschaftsfunktionäre in „Schutzhaft“, wiesen sie also in Konzentrationslager ein. Dann wurden die Gewerkschaften verboten. Arbeiterinnen und Arbeiter wurden – wie auch Angestellte – jeglicher Möglichkeit beraubt, sich für ihre Interessen gegenüber Arbeitgebern oder auch gegenüber dem Staat einzusetzen. Stattdessen wurden sie in einer nationalsozialistischen Pflichtorganisation zusammengefasst, der Deutschen Arbeitsfront (DAF), einem Einheitsverband für Arbeitsnehmer*innen und Arbeitgeber: Letztere ­waren nun „Gefolgschaftsführer“ und die Arbeitnehmer*innen eine „Gefolgschaft“ ohne Rechte. Arbeitsverhältnisse wurden zunehmend militarisiert, ab Ende der 1930er Jahre war es kaum noch möglich, seinen Arbeitsplatz ohne Zustimmung des Arbeitgebers und des Staates zu wechseln.

Was können Gewerkschaften und Gewerkschaftsmitglieder heute tun, um wachsam und aktiv gegen die Feinde der Demokratie Widerstand zu leisten?

Gewerkschaften haben für den Erhalt der Demokratie eine große politische Verantwortung. Sie müssen sich für die Demokratie und die unteilbaren Menschenrechte einsetzen. Das können sie auf vielfältige Weise tun, etwa, indem sie zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützen, die sich für eine vielfältige, demokratische Gesellschaft und gegen Rassismus ein­setzen, indem sie historische-politische Bildung unterstützen (auch in ihren eigenen Reihen), indem sie sich für geflüchtete Kolleg*innen oder Kolleg*innen mit Migrationsbiographien einsetzen, vor ­allem aber, indem sie sich der Normalisierung extrem rechter, rassistischer und antisemitischer Diskurse entgegenstellen, indem sie in gewerkschaftlichen Kreisen nicht geduldet werden. Ein Mittel können Unvereinbarkeitsbeschlüsse gegenüber rechtsextremen Parteien sein, insbesondere gegenüber der AfD – Unverein­barkeitsbeschlüsse, die dann auch ­konsequent umgesetzt werden. Demokratiefeindliche und menschenfeindliche Positionen dürfen in den Gewerkschaften keinen Platz haben.

Interview: Helmut Krohne