06_07_01_reportage_ostseefischer_nobel.jpg
Dennis Görtz, 43, auf Fischfang in der Ostsee mit seinem Kutter
06_07_01a_reportage_ostseefischer_nobel.jpg
Während Dennis das Schiff vorsichtig an den Schwimmer des Stellnetzes heran fährt, holt Decksmann Siggi das Netz ein.
06_07_02_reportage_ostseefischer_nobel.jpg
Decksmann Siggi holt 1.000 Meter Stellnetz ein
06_07_04_reportage_ostseefischer_nobel.jpg
Hinaus ins Dunkle – Dennis und Siggi stechen mitten in der Nacht in See
06_07_05_reportage_ostseefischer_nobel.jpg
Jeder Fisch muss aus dem Netz "gepukt" werden
06_07_06_reportage_ostseefischer_nobel.jpg
In der Speakers Corner an der Fischhalle von Thiessow
06_07_06c_reportage_ostseefischer_nobel.jpg
Ulrich Fröses verlässt mit seinem Kutter den Hafen von Burg auf Fehmarn
06_07_06a_reportage_ostseefischer_nobel.jpg
Ulrich Fröse hat mit seinem Kutter»Biber« sein Buntgarnnetz erreicht
06_07_06b_reportage_ostseefischer_nobel.jpg
Außer einer Meerforelle war nur »Schiet im Netz«, sagt Ulrich Fröse
06_07_03_reportage_ostseefischer_nobel.jpg
Magerer Fang – die Heringspopulationen in der Ostsee sind enorm geschrumpft
06_07_07_reportage_ostseefischer_nobel.jpg
Fischernetze müssen immer wieder geflickt werden
06_07_08_reportage_ostseefischer_nobel.jpg
Erlebnisraum Ostsee – Fischereihäfen sind ein attraktives UrlaubszielAlle Fotos: Rolf Nobel

Es ist mitten in der Nacht, als Fischer Dennis Görtz den Dieselmotor seines Kutters anwirft, die "Eisvogel" den Rügener Hafen von Thiessow hinaussteuert und in den silbrigen Glanz eines strahlend-hellen Dreiviertelmondes eintaucht. Wir haben Windstärke 5, aber der 43 Jahre alte Stahlkutter tanzt auf den Wellen so seefest wie eine Möwe.

Gute 90 Minuten nach dem Auslaufen haben Dennis und sein Decksmann Siggi ihr Ziel erreicht: 1.000 Meter Stellnetz. Sie haben es erst am Nachmittag des Vortages ausgelegt, jetzt holen sie es ein. Länger wollen sie ihre Netze nicht mehr im Wasser liegen lassen, obwohl sie dann mehr fangen würden. Aber der Verbiss durch Ringelrobben wäre größer. Die Fischer müssen dann viele angefressene Heringe wieder über Bord werfen.

Das Prinzip der Stellnetzfischerei ist einfach. Das hauchdünne Nylonnetz hängt an langen Schwimmern, ähnlich den Posen beim Angeln. An der Wasseroberfläche wird das Netz von mehreren Schwimmern getragen. Die Enden des Netzes werden mit Ankern am Meeresboden gehalten. Über eine an der Bordwand angebrachte Rollvorrichtung wird das Netz ausgebracht und nach 10 bis 12 Stunden mit den darin gefangenen Heringen wieder eingeholt. Das macht Decksmann Siggi. Dennis muss die "Eisvogel" dann vorsichtig an die Stellnetzbojen heransteuern.

"Zu wenig, viel zu wenig"

Nach gut einer Stunde sind die Netze aus dem Wasser, an Deck liegen rund 70 Kilo Hering. "Zu wenig, viel zu wenig", klagt Siggi, sonst eher der stille Typ. Wieder sind einige Robbenbisse darunter, ärgert sich Dennis. Wenn die Fische mit ihren Kiemen oder Flossen im Netz hängen bleiben, dann ist das für die Kegelrobben wie ein gedeckter Tisch. Sie fressen die Heringe etwa zur Hälfte, den Rest lassen sie im Netz. Während das Ministerium für Landwirtschaft und Umwelt in Mecklenburg-Vorpommern von einem Seehundverbiss von 6 Prozent ausgeht, sind es nach Beobachtungen von Dennis Görtz manchmal bis zu 30 Prozent. Und er beklagt auch die Fänge der Kormorane, die durchschnittlich 500 Gramm Fisch pro Tag fressen. Rund 170.000 Brutpaare werden derzeit im gesamten Ostseeraum vermutet. Eine Populationsexplosion!

Der mäßige Fang heute ist besonders bitter, sagt Dennis, denn heute hätten sie einen Abnehmer für 500 Kilo gehabt. "Im Februar und März, wenn wir den Hering fangen, ist auf Rügen tote Hose", sagt der Fischer, "dann sind kaum Touristen auf der Insel und viele Kneipen und Imbisse haben geschlossen. Da wird man den Fisch nicht los." Ein Kühlhaus, in dem sie den Fisch zwischenlagern können, haben die wenigsten Küstenfischer, auch Dennis nicht. Damit könnten sie den Fisch, den sie in der Nebensaison fangen, zumindest bis zur Saison und dem Eintreffen der Touristenströme lagern.

Einst war die gesamte Ostsee so voll von Heringen, "dass manchmal die Schiffe stecken bleiben und kaum noch mit ange-strengtem Rudern herauszubringen sind", schrieb im Jahre 1200 der dänische Gelehrte Saxo Grammaticus. Über Jahrhunderte war der Hering der Brot- und Butterfisch der gesamten Ostsee. "Es ist noch gar nicht so viele Jahre her", erinnert sich der Ostseefischer Ulrich Fröse aus Burg auf Fehmarn, "da habe ich so viel gefangen, dass ich in wenigen Jahren mein Haus davon abbezahlen konnte."

Überfischung, die Erwärmung der Ostsee, ihre Verschmutzung mit Düngemitteln und der damit einhergehende Sauerstoffmangel haben die Fischbestände dezimiert. Auch die jährlichen Kürzungen der Fangquoten durch den Europäischen Fischereirat konnten den Abwärtstrend nicht stoppen.

Noch schlimmer ist die Situation beim Dorsch. Er darf derzeit gar nicht gefangen werden. Auch nicht von Hobbyanglern. "Die Dorsche", sagt Dr. Uwe Krumme vom Rostocker Thünen-Institut, "verlieren seit etwa 2016 dramatisch an Gewicht. Im Sommer sind sie in Tiefen von 13 bis 18 Metern gefangen. Über drei, vier Monate. Höher können sie nicht, weil es zu warm ist, tiefer auch nicht, weil es dort zu sauerstoffarm ist. Daraufhin reagieren die Dorsche mit Stress. Sie werden dünner, weil sie nicht mehr so viel fressen, die Lebergewichte nehmen ab, die wichtig sind, um Energie zu speichern. Und das beeinträchtigt sie beim Laichen."

Nach Ansicht der Wissenschaftler gibt es nicht mehr genug Biomasse, um zumindest den Fortbestand der Heringspopulation zu sichern. Hinzu kommt der Klimawandel, der dazu führt, dass die Larven viel zu früh schlüpfen und verhungern. Und der Fischereidruck auf den Bestand ist seit Jahrzehnten zu hoch. Erst viel zu spät wurde jetzt die industrielle Schleppnetzfischerei verboten, die den Bestand stark reduziert und den Küstenfischern den Fisch weggefangen hat.

Von 1.800 Ostseefischern sind 180 übriggeblieben

Während früher der Urgroßvater den Fischfang an den Großvater und dieser an den Vater und der an den Sohn weitergab, ist dies heute nicht mehr der Fall. "Ich bin froh, dass mein Vater gesagt hat, dass ich was Anständiges lernen soll", sagt Dennis Görtz. Also lernte er Fliesenleger. Weil er aber die Fischerei liebt und den Kutter des Opas erbte, hat er dann auf Fischer umgeschult. "Jetzt kann ich im Winter als Fliesenleger arbeiten und die fischereifreie Zeit überbrücken."

"Im Februar und März, wenn wir den Hering fangen, ist auf Rügen tote Hose, dann sind kaum Touristen auf der Insel und viele Kneipen und Imbisse haben geschlossen. Da wird man den Fisch nicht los."
Dennis Görtz, Küstenfischer und Fliesenleger

Das Durchschnittsalter der Fischer in Mecklenburg-Vorpommern liegt bei 57 Jahren, die Zahl der Ostseefischer ist seit der Wende von 1.800 auf rund 180 geschrumpft. Im Jahr 2023 wurden in Mecklenburg-Vor-pommern nur noch zwei Azubis zum sogenannten "Fischwirt Küste" ausgebildet.

Der Rückgang der Fangmengen, die in der westlichen Ostsee in diesem Jahr bei 435 Tonnen Hering liegen – vor fünf Jahren waren es noch etwa zehnmal so viele – macht eine effiziente Vermarktung der wenigen Fische unmöglich. Für den Großhandel reichen die Fangmengen nicht aus. Die Infrastruktur für die Fischerei ist nach Jahren des Niedergangs weitgehend veraltet, verschrottet, verkauft. Einer der ehemals größten Fischverarbeiter Europas – Euro-Baltic in Sassnitz auf Rügen – hat 2022 die industrielle Erstverarbeitung von Hering aufgegeben.

Auch maschinell filetieren können Dennis und seine Kollegen aus Thiessow nicht mehr, seit ihre Fischereigenossenschaft "Leuchtfeuer" in Thiessow den Betrieb eingestellt hat. Ihre Filetiermaschinen stehen seitdem still. Und das Filetieren von Hand ist mühsam und nicht so genau wie mit der Maschine. Dabei ist gerade die küchenfertige Zubereitung der Fische in der unter Personalmangel leidenden Ostseegastronomie gefragt.

Eine Sisyphusarbeit

Während Dennis den Kutter wendet und Kurs auf Thiessow nimmt, beginnt Siggi auf dem Motorraumdeckel der "Eisvogel" mit dem "Puken". So nennt man das Herausholen der Fische aus dem feinen Netz. Darin haben sie sich mit Kiemen und Flossen verhakt. Eine Sisyphusarbeit. Zwischendurch verlässt Dennis immer wieder den Steuerstand, um dem Kettenraucher Siggi eine brennende Zigarette in den Mund zu stecken, die er sich mit seinen dicken Hand-schuhen nicht selbst anzünden kann.

Die Fischhalle der ehemaligen Fischereigenossenschaft ist so etwas wie die Speakers Corner von Thiessow. Hier treffen sich Fischer, Rentner und Rügener, die ihren Fisch im Hafen kaufen wollen. Bei einer Buddel Radeberger wird laut und leidenschaftlich politisiert. Der Zorn der Teilnehmer richtet sich auch heute gegen die Grünen, Umweltschützer, die Europäische Gemeinschaft und gegen Ringelrobben und Kormorane, die sie allesamt für die Krise der Küstenfischerei verantwortlich machen. Und wütend sind sie auch auf die Wissenschaftler des Thünen-Instituts in Rostock, die innerhalb des Internationalen Rates für Meeresforschung Ratschläge für die Bemessung der Fangquoten geben.

"Die Politiker scheren sich einen Dreck um uns", schimpft in der Runde Fischer Carsten Bösel lautstark, "und bei der Zahl der Seehunde und Kormorane lügen sie uns auch noch an." "Die müssen endlich dezimiert werden", fällt ihm ein anderer Fischer ins Wort. Auch die Organisationen der Fischer halten diese Tiere für "überschützt".

Eine große Idee, wie man den Niedergang der Ostseefischerei aufhalten könnte, hat hier niemand. Dem Plan, die Ostseefischerei als immaterielles Kulturerbe der UNESCO fördern zu lassen, stehen die Fischer skeptisch gegenüber. Auch Förster des Meeres, sogenannte "Sea Ranger", wollen nur wenige von ihnen werden. Nach einer Umschulung sollen die außerhalb der Fangzeiten wissenschaftliche Untersuchungen durchführen, Touristen die Natur des Meeres erklären und die Entwicklung der Küstengewässer beobachten. Das zusätzliche Einkommen soll ihnen helfen, die fangarme Zeit zu überbrücken.

Elf Fischer haben an einem Pilotprojekt teilgenommen. Für viele Fischer ist es nur ein PR-Gag, denn weder die Finanzierung ist geklärt noch die Zahl derer, die dadurch vor der Aufgabe der Fischerei bewahrt werden können.

André Scheer, bei der Gewerkschaft ver.di zuständig für die maritime Wirtschaft, glaubt auch nicht an die Wirkung solcher Pläne. "Bis auf einige Regionalpolitiker haben die wenigen Ostseefischer einfach keine Lobby", sagt er. "Für die Politiker in Berlin ist das einfach ein zu spezielles Thema und in deren Augen zu unbedeutend." Und kompliziert ist es auch für die Gewerkschaft ver.di, denn in der Ostseefischerei sind fast alle Fischer als Selbständige tätig. "Organisierte Seeleute, wie früher in der Hochseefischerei, haben wir hier kaum, die paar kannst Du an einer Hand abzählen. Was willst Du da machen?"

Fischer beim Netzeflicken

Dabei sieht auch der Gewerkschafter, dass es nicht nur um die Fischerei geht, sondern um den Erlebnisraum Ostsee insgesamt. Denn wer will als Urlauber noch in Häfen herumlaufen, in denen nur noch Sportboote festmachen? Geschäftige Fischereihäfen mit anlandenden Kuttern und Fischern beim Netzeflicken sind nun mal ein attraktiveres Urlauberziel.

Für Dennis Görtz geht der Tag schließlich doch noch versöhnlich zu Ende. Ein Fischerkollege hat ihm 400 Kilogramm seines Fangs überlassen, für die er selbst keinen Abnehmer hatte. Dennis wird sie ihm bei Gelegenheit zurückgeben. "Immerhin", sagt er, "bei all dem Ärger mit den Quoten und den Robben helfen wir uns noch untereinander."

Der Mensch, der Fisch und das Meer

Fisch essen soll sehr gesund sein. Doch wer in das neue Buch von Ökojournalist Manfred Kriener – "Fisch in Seenot" – eintaucht, dass er zusammen mit dem Gewässerökologen Stefan Linzmaier geschrieben hat, muss oft schlucken, weil einem der Fisch im Hals stecken zu bleiben droht. Doch das Autorenduo malt nicht nur schwarz, will uns den Appetit auf Fisch nicht madig machen. Die beiden wollen vielmehr unsere Sinne dafür schärfen, warum der Fisch an sich in Not geraten ist – Umwelteinflüsse, Überfischung, Plastikmüll etc. – und was wir selbst dazu beitragen können, den Fisch zu retten, auch für unser leibliches Wohl. Es geht von den Weltmeeren in die Nord- und Ostsee, an den Bodensee, in die Aquakultur, zu den Weltmeistern im Angeln und schließlich zu den heimischen Fischen, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Das alles ist sehr unterhaltsam aufbereitet und entlässt die Leserin vor allem mit einem doch wieder guten Gefühl an die Fischtheke. Petra Welzel

Manfred Kriener/Stefan Linzmaier, Fisch in Seenot. Über den sorgsamen Umgang mit einer gefährdeten Ressource, S. Hirzel Verlag 2024, 232 Seiten, ISBN 978-3-7776-3399-2, 22 €