Ausgabe 04/2024
Gegengift zur Ostalgie
Die Filme von Thomas Heise
Thomas Heise, der „großartige Filmer und fabelhafte Berliner“, wie die Schriftstellerin Katja Lange-Müller ihn nannte, ist am 29. Mai im Alter von 68 Jahren gestorben. Seine Dokumentarfilme Das Haus und Volkspolizei kannte ich, bevor ich ihn 2017 bei einer Filmvorführung in Berlin-Mitte kennenlernte. „Wozu denn über diese Leute einen Film?“, hieß seine damals vorgestellte Dokumentation über zwei Brüder und ihre Mutter aus dem Prenzlauer Berg. Es war Heises Abschlussarbeit für die Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg, 1980 gedreht; sie blieb bis zur Uraufführung einen Monat vor der Wende 1989 im Giftschrank der DDR. „Wozu denn über diese Leute einen Film?“, das waren die Worte seines Dozenten.
„Diese Leute“, die Heise da zeigte, das waren Menschen, die in der offiziellen DDR-Erzählung nicht vorkamen: Kleinkriminelle, Kaufhalleneinbrecher, Jugendliche, die mit dem Luftgewehr auf Nachbarn schossen – Assis, wie man sie nannte. Heise hatte Zugang zu diesen Leuten, weil er ihre Sprache sprach, klar und bodenständig, den Berliner Dialekt sowieso. 1984 dokumentierte Thomas Heise im Auftrag der Staatlichen Filmdokumentation den Verwaltungsalltag im Rat des Stadtbezirks Berlin-Mitte im Berolina-Haus am Alexanderplatz. Ein Jahr später gelang es ihm, unter Vortäuschung nicht vorhandener Drehgenehmigungen, am Vorabend des 1. Mai ungehindert einen Tag lang den Routineablauf eines Polizeireviers an der Brunnenstraße zu filmen, Einsätze und Streifenfahrten. Beide Filme, das Haus und Volkspolizei finden sich in der DVD-Box Material, einer Sammlung von Bildern der späten Jahre der DDR bis in die deutsche Gegenwart. Es sind Zeugnisse realsozialistischer Tristesse und ein schwarzweißes Gegengift zur aktuellen Diktaturverklärung.
Den nostalgischen Blick auf die DDR prägen heute Filme und Serien wie Aber Vati oder Zur See, Abbilder einer sonnigen, demokratischen Republik, wie sie in den Bestsellern von Dirk Oschmann oder Katja Hoyer fortlebt und wie sie sich die Demagogin Sahra Wagenknecht zurückwünscht. Welche zwischenmenschlichen Verwüstungen die Diktatur der DDR hingegen hinterließ, bezeugen auch Thomas Heises Filme in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung über die Suizide Jugendlicher aus
Eisenhüttenstadt, Eisenzeit (1991) oder STAU – Jetzt geht’s los (1992), eine von drei Dokumentationen, in denen Heise rechte Jugendliche in Halle nach dem Mauerfall begleitete. OL Schwarzbach
Zur Mediathek der bpb kurzlinks.de/owuk;
Zur DVD-Box der Edition filmmuseum kurzlinks.de/ab7q
OL, 1965 in Ostberlin geboren, floh 1989 vor Wehrdienst und Staatssicherheit nach Westdeutschland; er lebt und arbeitet als Cartoonist in Berlin. Seine Autobiografie Forelle Grau: Die Geschichte von OL ist im Piper Verlag erschienen.
Madame Sidonie in Japan
Seltsam menschenleere, sterile Flughäfen, Hotelfoyers und Zen-Tempel: Ein bisschen unwirklich erscheinen die Landschaften in dieser feinsinnigen Geschichte, die mit ihrer tiefen Einsamkeit auch an Bilder des amerikanischen Malers Edward Hopper erinnern. Nur dass Élise Girard ihr Kammerspiel nicht in Amerika verortet, sondern in Japan. Zwischen Osaka und Kyoto schickt die Regisseurin eine Schriftstellerin zusammen mit ihrem japanischen Verleger auf eine mit allerhand skurrilen Erlebnissen gespickte Lesereise. Ungewöhnliche Rituale sind die Vorboten einer gespenstischen Begegnung mit dem Geist des toten Mannes dieser Madame Sidonie aus Frankreich, den außer ihr niemand sehen kann. Sie führt schließlich zur banalen Weisheit, dass man von einem geliebten Verstorbenen lassen muss, um sich dem Leben und der Liebe wieder öffnen zu können. Der Reiz der berührenden, leisen Erzählung liegt in ihrer Leichtfüßigkeit, dem feinfühligen Spiel der Hauptdarstellerin, trockenem Humor und zarten Anflügen von Spiritualität. Kirsten Liese
F/D/CHE/Jpn 2023. R: Èlise Girard, D: I. Huppert, A.Diehl, T. Ihara, u.a. 92 Min. Start: 11.7.
Der Garten der Finzi-Contini
Letzte Gelegenheit, diese Filmperle zu sehen. 1971 gewann die Verfilmung des Romans von Giorgio Bassani den goldenen Bären der Berlinale. Erzählt wird am Beispiel der jüdischen Großbürger-Familie Finzi-Contini die Geschichte der Juden von Ferrara. Im Mittelalter in die norditalienische Stadt eingeladen, um die Wirtschaft anzukurbeln, gerät die etwa 1.000-köpfige Gemeinde immer mehr unter den Druck von Mussolinis Faschismus. Gesellschaftlich geächtet, öffnet die Famile ihren Garten für die von Vereinen und Universitäten ausgeschlossenen Juden der Stadt; die jungen Leute verbringen hier ihre Zeit mit Tennisspielen und Gesprächen über Kunst und Kultur und Politik und Freundschaft. Von der Gefahr spüren sie nur erste Erschütterungen, und so kann sich die zarte Liebesgeschichte zwischen der begabten Tochter des Hauses Mícol und dem Autor Giorgio entwickeln. Die elegischen Bilder von Ferrara und dem fiktiven Garten sowie die Dialoge der so wohltuend höflich miteinander sprechenden Menschen weichen erst am Ende einer Ahnung vom nahenden Zivilisationsbruch. Jenny Mansch
I/D 1970. R: Vittorio de Sica. D: Dominique Sander, Helmut Berger. D. 94 Min. Arte Mediathek