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Olha VorozhbytFoto: privat

„Die Züge der Kiewer U-Bahn werden in größeren Abständen fahren.“ Als ich ­diese Meldung vor kurzem sah, dachte ich, es liegt am Strommangel. Jeder, der heute in der Ukraine lebt, spürt ihn, und Russland hört nicht auf, Energieerzeugungsanlagen zu beschießen. Der Grund für den längeren Takt ist jedoch ein anderer: Der U-Bahn fehlen Mitarbeiter, allein 83 Zugführer. Vertreter des Unternehmens sagen, dass es nicht nur an der ­Mobilisierung fürs Militär liege, sondern auch an der Migration und den Besonderheiten des Berufs (es dauert mindestens ein Jahr, um einen Zugführer auszubilden). Große Metalurgie-Unternehmen („Interpipe“, „Arcelor Mittal“ und „Metinvest“) kündigen an, dass sie ihre Produktion aufgrund des Arbeitskräftemangels möglicherweise einstellen, zumindest aber reduzieren müssen.

Gleichzeitig mangelt es an Menschen an der Front. Laut Roman Kostenko, dem ­Sekretär des Parlamentsausschusses für nationale ­Sicherheit, wurden seit ­Inkraft-treten des neuen Mobilisierungsgesetzes (Mitte Mai), mehr Menschen mobilisiert als in den vergangenen Monaten. In meinem Bekanntenkreis haben sich allein im letzten Monat etwa ein ­Dutzend Männer und eine Frau den Streitkräften angeschlossen. Unter ihnen ist auch der

Chefredakteur der Zeitschrift, für die ich arbeite. Aber damit nicht genug, die Mobilisierung wird in den kommenden Monaten weitergehen, denn Russland hört nicht auf, einen aggressiven Krieg zu führen. Und das bedeutet auch: noch weniger Arbeitskräfte im Land.

Das zweite Problem für den Arbeitsmarkt in der Ukraine ist heute die Migration, ein sensibles Thema für die Gesellschaft. Seit Beginn des Krieges hat die Ukraine die Ausreise von Männern im wehrfähigen Alter beschränkt. Und während im ersten Jahr der russischen Invasion Zehntausende von ihnen in die Ukraine zurückkehrten, oft um freiwillig für die Verteidigung des Landes einzutreten, ist im letzten Jahr die Zahl der Männer, die die Ukraine unter verschiedenen Vorwänden oder ­illegal verlassen haben, erheblich ge­stiegen. Diese Situation hat nicht nur Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, sondern auf die gesamte Gesellschaft. Es gibt Familien, in denen ein Angehöriger an der Front kämpft und der andere sich ins Ausland abgesetzt hat.

Frauen in Männerjobs

In den letzten Monaten hat die Zahl der Anzeigen, in denen Frauen eine Ausbildung für „männliche“ Positionen angeboten wird, deutlich zugenommen. In zwei Wochen endet der erste vom Fernsehsender „Kyiv24“ organisierte Kurs für Kamerafrauen. Danach werden alle Frauen eingestellt. Einige Einzelhandelsketten, wie „Fora“ und das Transportunternehmen wie „Selenyj Slon 7“, beschäftigen bereits Frauen als Fahrerinnen von Lastwagen und großen Bussen. Die Unternehmen sind nun auch eher bereit, Arbeitnehmer ohne Berufserfahrung einzustellen, und einigen ist es gelungen, Migranten anzuwerben. Dennoch: Im Vergleich zum Vorkriegsjahr 2021 ist die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte um mehr als 27 Prozent zurückgegangen.

Das Problem ist groß und erfordert radikale Lösungen nicht nur auf Seiten der Ukraine. Jede Verzögerung bei der Lieferung von Waffen und Luftabwehrsystemen bedeutet Tod und Verwundung für viele Ukrainer, Zerstörung von Häusern und Industrie. Und noch weniger Arbeitskräfte.

Meinem Land rennt die Zeit davon. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, erinnere ich mich an meinen Lieblingsmoment bei einer Fahrt mit der Kiewer U-Bahn: als der Zug aus dem Tunnel kommt und über die lange Brücke über den Dnipro fährt. Nach der Dunkelheit des Tunnels werden die Fahrgäste vom Sonnenlicht geblendet. Ich möchte glauben, dass diese Allegorie für die Zukunft meines Landes noch möglich ist.