Ausgabe 05/2024
In der Pause zu Hedi
Bei Anbruch der Nacht tanzt Hedi Tounsi vor dem Logistikzentrum von Amazon in Winsen an der Luhe um die Bushaltestelle herum. Zum Takt der Trillerpfeifen hüpft er von einem Bein aufs andere, schwenkt eine ver.di-Fahne durch die Luft. Als ein weißer Bus heranrollt und sich die Türen öffnen, strömen die Kolleginnen und Kollegen der Nachtschicht heraus: Sie klatschen, jubeln, lachen, winken, pfeifen. „Unser erster Streik“, erzählt Hedi Tounsi in einem Café in Hamburg bei Cappuccino und Schokoladenkuchen. Als der Lagerarbeiter das kurze Video auf seinem Smartphone abspielt, strahlt er übers ganze Gesicht. „Das war der glücklichste Moment in meinem Leben.“ Allein in dieser Nacht seien rund 200 Kolleginnen und Kollegen neu bei ver.di eingetreten. Die Formulare reichten nicht aus, deshalb kritzelten sie die Anmeldungen kurzerhand auf einen Notizblock.
Hedi Tounsi trägt eine stylische Brille und Vollbart, unter dem schwarzen Strickpulli blitzen silberne Armreife hervor. Vor sieben Jahren ist er mit einem Flixbus aus Tunesien nach Hamburg gekommen, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Inzwischen ist er Betriebsrat bei Amazon in Winsen, südlich von Hamburg, aktiv bei ver.di – und kennt sich bestens mit Paragrafen und Gesetzen aus. „Nur so kannst du dich und andere schützen“, ist der 33-Jährige überzeugt. Er hat sich zum Ziel gesetzt, die Arbeitsbedingungen bei dem milliardenschweren Konzern zu verbessern. Dazu gehört faires Gehalt – „Make Amazon Pay“, ruft Hedi Tounsi bei Aktionen wieder und wieder ins Megafon – und endlich ein Tarifvertrag.
„Ich dachte immer, Deutschland ist mit Blick auf die Demokratie ein Paradies.“
„Wie Amazon mit den Leuten umgeht, ist nicht in Ordnung“, findet er. „Da fehlt jeglicher Respekt.“ Die Beschäftigten im Lager stünden unter enormem Druck. Sie müssten über 300 Pakete pro Stunde packen. Nach jedem Artikel starte auf dem Monitor ein Countdown: 7 – 6 – 5 – 4 – 3 – 2 – 1. „Du denkst, gleich explodiert eine Bombe.“ Wer bei dem Tempo nicht hinterherkomme, habe schnell einen Manager neben sich stehen: „Hey, was ist los mit dir?“
„Die Leute haben richtig Angst“
Auf den Toiletten verhinderten dicke Metalltüren, dass jemand kurz auf sein Handy gucken kann. Und ständig drohten Abmahnungen. Zum Beispiel, wenn jemand ein paar Minuten zu spät kommt oder zu laut redet. Kürzlich habe ein Kollege sogar Ärger bekommen, weil er seine Flasche am Wasserhahn nur halb auffüllte – und deshalb zweimal laufen musste, berichtet Hedi Tounsi. Immer wieder komme es vor, dass ein Lagerarbeiter bei ihm im Betriebsratsbüro weint. „Die Leute haben richtig Angst.“
Die Amazon-Beschäftigten in Winsen stammen aus Eritrea, Somalia, Syrien, Afghanistan, Irak oder anderswo in der Welt. „So gut wie alle sind geflüchtet.“ Viele haben keinen sicheren Aufenthaltsstatus und können kaum Deutsch. Sie fürchten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, sagt der Lagerarbeiter. Oft sei ihre Aufenthaltserlaubnis an den Job geknüpft. Was Hedi Tounsi zugutekommt: Er weiß aus eigener Erfahrung, wie sich das anfühlt – und er spricht Arabisch, Französisch und Englisch. „Ich sage ihnen immer: Hey Leute, wir sind am Boden! Was kann uns passieren?“ Und: „Wir sind Level eins.“ Die niedrigste Lohngruppe in der Lagerlogistik. „Minus eins gibt es nicht“, sagt er – und lacht. Hedi Tounsi verdient 2.600 Euro brutto, etwas mehr als der gesetzliche Mindestlohn. Wenig Geld für die harte Arbeit im Lager, doch schon dafür mussten die Amazon-Beschäftigten mehrfach streiken.
„Ich gehe erst, wenn Amazon einen Tarifvertrag hat.“
In Tunesien war er Polizist, hat als Hundetrainer gearbeitet. Seine Eltern könnten beide weder lesen noch schreiben, erzählt Hedi Tounsi. Doch seine Mutter legte größten Wert darauf, dass ihre neun Kinder etwas lernen. Bei den Massenprotesten des Arabischen Frühlings war Hedi Tounsi als Jugendlicher mit auf der Straße und musste sich zeitweise verstecken. Nach dem Sturz der Diktatur ging er zur Polizei und gründete die erste Polizeigewerkschaft in Tunesien mit.
Deutsch lernen mit „Peppa Wutz“
Eigentlich wollte er gar nicht weg. Doch als er nach Europa in den Urlaub fuhr, verliebte er sich. Schnell stand für ihn fest: „Ich bleibe in Hamburg.“ Seine Frau war mit Zwillingen schwanger – und Hedi Tounsi musste zusehen, dass er Geld verdient. Die Ausländerbehörde machte klar: Wenn er längerfristig bleiben will, muss er innerhalb eines Jahres eine Festanstellung sowie gute Deutschkenntnisse vorweisen. Zunächst arbeitete Hedi Tounsi über eine Zeitarbeitsfirma im Lager von H&M, guckte nach Feierabend „Peppa Wutz“ und lernte zusammen mit seinen Kindern Deutsch.
Als ein neues Amazon-Verteilzentrum in Winsen eröffnete, bewarb er sich sofort. Dort war er fassungslos, wie mit den Beschäftigten umgegangen wurde – und fragte sich: Wo ist der Betriebsrat? „Ich dachte immer, Deutschland ist mit Blick auf die Demokratie ein Paradies.“ Hedi Tounsi lacht und schüttelt den Kopf.
Er erinnert sich noch genau daran, wie er an der Haltestelle zusammen mit hunderten anderen Amazon-Beschäftigten auf den Bus nach Winsen wartete – und ihm jemand einen ver.di-Flyer in die Hand drückte, auf Arabisch. „Das war der Moment, der mein Leben veränderte.“ Kurzerhand nahm er Kontakt mit ver.di auf. Zusammen mit ein paar anderen Amazon-Beschäftigten trafen sie sich in einem Café in der Nähe des Bahnhofs in Winsen. „Unser Ziel war es, die Gewerkschaft aufzubauen“, sagt Hedi Tounsi. „Am Anfang so geheim wie möglich.“
Für Hedi Tounsi stand die Gründung eines Betriebsrats ganz oben auf der Agenda, mit Erfolg. Jetzt arbeitet er zwei Wochen im Lager und zwei Wochen im Betriebsratsbüro. Stets ist er mit blauer Weste unterwegs, damit er als Betriebsrat gut zu erkennen ist. In der Kantine würdigten ihn die Manager am Nebentisch keines Blickes, sagt er. Seinen Kolleginnen und Kollegen macht er klar, dass sie sich bei Problemen jederzeit an ihn wenden können. „Und zwar während eurer Arbeitszeit“, betont er. „Das ist euer Recht. Eure Pause gehört euch.“ Wenn ihr Chef etwas dagegen sage, laute seine Antwort: „Das verstößt gegen das Gesetz, wir sehen uns vor Gericht.“
Er weiß, er muss vorsichtig sein
Was im Betriebsverfassungsgesetz steht, weiß Hedi Tounsi haargenau. Und er weiß auch: „Ich muss vorsichtig sein.“ Zwei Abmahnungen habe er schon bekommen. Der Gewerkschafter erzählt von einem Ex-Kollegen: Amazon hatte vor Gericht erfolgreich eine fristlose Kündigung beantragt, weil er zeitweise bei einer Fortbildung fehlte. „Ich vermisse ihn sehr. Wir waren ein Team.“ Umso mehr geht er jetzt auf Nummer sicher: Bevor er das Gebäude verlässt, tastet er seine Hosentaschen ab. Damit ihm niemand heimlich etwas einstecken kann. „Da steckt noch der Polizist in mir.“ Er weiß, dass Diebstahl eine fristlose Kündigung rechtfertigt. Und wenn er mit Managern spricht, verschränkt er stets die Arme auf dem Rücken – damit ihm niemand vorwerfen kann, er habe jemand angegriffen.
„Ich habe keine Angst davor, gefeuert zu werden“, stellt Hedi Tounsi klar. Er spricht inzwischen perfekt Deutsch, hat die deutsche Staatsbürgerschaft – und würde sofort einen besseren Job finden. „Aber was passiert dann mit den Leuten?“ Für ihn steht fest: „Ich gehe erst, wenn Amazon einen Tarifvertrag hat.“ Seiner Meinung nach muss auch die Politik dringend etwas tun. Wieder scrollt er auf seinem Handy und zeigt ein anderes Video: In dem kurzen Clip demonstriert er wieder mit hunderten anderen Menschen vor einem Amazon-Verteilzentrum in Hamburg. „Wie kann es sein, dass es dort nicht mal einen Betriebsrat gibt?“ Hedi Tounsi schüttelt den Kopf. „Das kann und will ich nicht akzeptieren!“
Aktueller Nachtrag
Erst nachdem das Porträt über Hedi Tounsi entstanden ist, musste Hedi in eigener Sache gegen Amazon vor Gericht ziehen. Amazon verweigert ihm die Bezahlung seiner Betriebsratsschulung, obwohl die ordnungsgemäß vom Betriebsrat beschlossen wurde. Das Arbeitsgericht Lüneburg wird sich mit der Sache beschäftigen. Wir werden an dieser Stelle darüber berichten, wie das Gericht entschieden hat. red