Ausgabe 05/2024
Eine Frau sieht grün
Petra Kelly: Act now!
In einer Szene dieses lang überfälligen Filmportraits von Petra Kelly steht die zierliche Frau mit den dunklen Schatten unter den Augen neben dem hoch gewachsenen Künstler Joseph Beuys, als ihn ein Fernsehreporter, ganz Kind der 80er, fragt, ob sie, Kelly, nicht auch so etwas wie ein kleines Kunstwerk sei. Da war Beuys gänzlich anderer Ansicht. Ein großes sei sie, ein gewaltiges, ein gewichtiges Kunstwerk innerhalb der Friedensbewegung, weil ihr Menschsein nicht aufzuhalten und sie nicht zu stoppen sei, tönte er ins Mikrofon.
Petra Kelly hat die Grünen mitgegründet und zog nur drei Jahre später, 1980, mit 28 anderen grünen Abgeordneten in den Bundestag ein. Während sich Joschka Fischer und Otto Schily schnell in der „Männerwelt des Bundestages wohlfühlten“, blieb sie dort ein unbequemer Stachel: Die Grünen, so beschreibt sie es selbst, waren für sie die Anti-Parteienpartei schlechthin und ihre Säulen waren der zivile Ungehorsam, die konsequente Gewaltfreiheit und die Blockfreiheit der Partei.
Filmemacherin Doris Metz hat mit Petra Kellys Wegbegleiterinnen und Freund*innen gesprochen; sie hat ihre Familie in den USA besucht, wo Kelly nicht nur aufgewachsen ist. Sie hatte dort alles über die Strategien und Aktionen der Bürgerschaftsbewegung gelernt. Der Film zeigt auch ein Kraftwerk von Frau, die sich nur schwer abgrenzen konnte – wer immer sie um Hilfe bat, konnte sich auf sie verlassen. So auch Milo Yellow Hair vom Stamm der Oglala Lakota. Ausgerechnet auf dem heiligen Boden seiner Pine Ridge Reservation in South Dakota baute die Atomindustrie Uran ab. Petra half und brachte das Leid des Stammes bis vor die Vereinten Nationen. „Sie hatte verstanden, dass die Beziehung der Menschen zur Erde entscheidend für die Art ist, wie wir uns gegenseitig behandeln. Go in peace, my sister“, sagt er und hat Tränen in den Augen.
Petra Kelly war es auch, die den Wunsch der ostdeutschen Bürgerbewegung um Bärbel Bohley nach einer DDR mit menschlichem Antlitz verstand und die Fusion der Grünen aus Ost und West vorantrieb. Die Doku taucht ein in ihr kurzes, aber intensives Leben. Wie sehr sie für ihre Ziele brannte, wie viel sie glaubte schaffen zu müssen – all das drückt sich in ihrer schnellen, fast gehetzten Art zu sprechen aus. Hat die Frau, für die Feminismus und Friedfertigkeit untrennbar zusammengehörten, geahnt, dass ausgerechnet sie durch den Gewaltakt ihres Lebensgefährten, Ex-Nato-General Gert Bastian, aus dem Leben gerissen würde? Der Film legt nahe, dass sie ganz andere Pläne hatte. Jenny Mansch
D 2024. R: DORIS METZ. MIT LUISA NEUBAUER, OTTO SCHILY, MILO YELLOW HAIR, EVA QUISTORP, INA FUCHS U.A. L: 105 MIN., KINOSTART: 12.9.24
Treasure – Familie ist ein fremdes Land
Ruth Rothwax ist 1991 eine 36-jährige Musikjournalistin aus New York, die sich auf die Spuren ihrer jüdischen Familie begeben und dafür nach Warschau reisen will. Ihr Vater Edek soll mit, obwohl ihm jedes Interesse an der Unternehmung abzugehen scheint. Von Anfang an boykottiert dieser viel zu gut gelaunte Baum von einem Mann die Reise. Seine Tochter hingegen stürzt sich in das Grauen der Vergangenheit ihrer Eltern, die den Holocaust überlebten. Deren Schweigen macht ihr bis heute in Form einer Essstörung zu schaffen, mit der sie die im Hotel in sich gestopfte Lektüre von Nazibüchern aus sich herauszutreiben scheint. Derweil weigert sich ihr Vater, die teuer bezahlte Zugreise nach Łódź anzutreten und singt im Hotel lieber Karaoke: „Life is life“. Es braucht Zeit und das vom Vater gestiftete Durcheinander, bis die beiden an den Stätten seiner Jugend einen Draht zueinander finden. Viele berührende, aber auch komische Momente erschafft dieser wunderbar besetzte Film von Julia von Heinz, die hier einen Roman von Lilly Brett verfilmt hat. Nach Hannas Reise und Und morgen die ganze Welt beschließt Treasure ihre Trilogie zu den Folgen des Holocausts für die nachfolgenden Generationen. Jenny Mansch
D/F 2024. R: JULIA VON HEINZ. D: LENA DUNHAM, STEPHEN FRY, ZBIGNIEW, ZAMACHOWSKI. 112. MIN., KINOSTART 12.9.24
Ezra – Eine Familiengeschichte
Ezra ist elf Jahre alt und hat eine Autismus-Spektrum-Störung, was sich vordergründig durch ein paar harmlose Marotten auszudrücken scheint. Man möge ihn bitte nicht anfassen, ihn nicht mit Bananen belästigen, und er besteht auf Besteck aus Plaste. Ärger in der Schule ist da programmiert und schnell wird den Eltern Max und Jenna eine Sonderschule empfohlen. Kompliziert wird die Sache durch die Familienaufstellung: Max ist Stand-Up-Comedian und lebt seit der Trennung von Jenna wieder bei seinem Vater, während Mutter Jenna einen neuen Lebenspartner hat, der einen unbedachten Witz loslässt. Ezra kann den nur wörtlich nehmen, stürzt panisch aus dem Haus und rennt fast vor ein Taxi. Darauf verliert Vater Max die Nerven, schnappt sich seinen Sohn und weiter geht der Film als Road Movie, in dessen Verlauf klar wird, dass hier nicht Ezra das Problemkind ist. Sehr verständig bewegt sich der Film zwischen Max’ Allmachtsfantasie und dem Kontrollverlust der Mutter. Wie sich die ganze Patchwork-Familie wieder zusammenrütteln kann, ohne dass einer auf der Strecke bleibt, zeigt dieser völlig hassfreie Film auf oft komische Weise. Denn wie am Ende gehören der Opa und auch der neue Freund hier ganz selbstverständlich zur Kernfamilie dazu. Jenny Mansch
USA 2023. R: TONY GOLDWYN. D: BOBBy CANNAVALE, WILLIAM A. FITZGERALD, ROSE BYRNE. 101 MIN., KINOSTART: 12.9.24