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Downing Street 10, Sitz des Premiers, leuchtet zum Gedenken an die Opfer des Anschlags in Southport in rosaFoto: PA Wire/dpa_picture alliance

Als am 4. Juli die kurzfristig anberaumten ­Neuwahlen in Großbritannien mit einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung von knapp unter 60 Prozent den bis dahin regierenden Tories eine herbe Niederlage und die seit 2010 die Oppositionsbank drückende Labour-Partei nach 14 Jahren wieder an die Macht brachte, war der wütende rechte Mob, der seit Ende Juli nach einem Anschlag auf Kinder wütet, nicht vorherzusehen. Labour-Chef Keir Starmer führt nun zwar eine mit komfortabler parla­mentarischer Mehrheit ausgestattete Regierung an, steht aber gleich zu Beginn vor seiner vermutlich größten Herausforderung.

Die Spitzen der britischen Gewerkschaftsbewegung haben den Regierungswechsel zunächst mit Erleichterung aufgenommen. In den Führungsgremien besteht Hoffnung auf einen politischen Kurswechsel. So bezeichnete Paul Nowack, der Generalsekretär des britischen Gewerkschaftsbundes TUC, den Wahlerfolg der Labour-Partei in einem Artikel als „außergewöhnlichen Augenblick in der britischen Geschichte“. Die britische Gewerkschaftsbewegung stünde bereit, gemeinsam mit der Labour-­Partei die Auswirkungen des „Tory-­Vandalismus“ der letzten Jahre rückgängig zu machen.

„Starmer muss sich mit uns an einen Tisch setzen und mit uns an einem Ende von Niedriglöhnen, Privatisierungen und Angriffen auf die Pensionen unserer Mitglieder arbeiten.“
Fran Heathcote, PCS-Generalsekretärin

Diese Sichtweise wird von Christina McAnea, Generalsekretärin von UNISON, der größten Gewerkschaft im öffentlichen Dienst und dem Gesundheitswesen, geteilt. In ihrer Reaktion auf die Wahl spricht sie von der „Morgendämmerung einer neuen Ära“. Zwar werde es nicht leicht sein, die ­„Schäden der vergangenen eineinhalb Dekaden zu reparieren“, aber mit der ­neuen Labour-Regierung bestünde die Hoffnung, das Land nach Jahren der Einsparungen wieder aufzubauen.

Doch gibt es bereits Anzeichen, dass Labour am Prinzip der Austeritätspolitik nicht rütteln wird. So hat die neue Finanzministerin Rachel Reeves zu ihrem Amtsantritt verkündet, dass sich Großbritannien „in der schwierigsten Phase seit dem zweiten Weltkrieg“ befinde, und dass sie bei der Erstellung ihres ersten Haushaltsentwurfs für den kommenden Herbst „schwierige Entscheidungen“ zu treffen habe. Auch andere jüngste Aktionen der neuen Regierung lassen Zweifel aufkommen. So wird unter anderem das Gesundheitsministerium mit Privatisierungsbefürwortern aus der neoliberalen „New Labour“-Ära unter Tony Blair bestückt.

Klare Erwartungen

Aus diesen Gründen äußern sich längst nicht alle Gewerkschaften ent­husiastisch, die rechten Ausschreitungen lassen selbst den TUC andere Töne anschlagen. Matt Wrack, der Vorsitzende der Feuerwehrgewerkschaft und Präsident des TUC, rief Starmer dazu auf, die Labour-Partei davon abzuhalten, die „entsetzliche“ einwanderungsfeindliche Rhetorik zu wiederholen, die die Krawalle angeheizt habe. Die Labour-Bewegung müsse Muslime unterstützen. Wrack fordert eine Massenmobilisierung auch innerhalb der Gewerkschaften, um rechtsextreme Schläger abzuwehren. Die Gewerkschaften seien schon immer das Herzstück der Anti-Rechts-Bewegung gewesen.

Eine ­Gewerkschaft, die in den vergangenen ­beiden Jahrzehnten besonders stark sowohl unter sozialdemokratischem als auch konservativem Personalabbau zu leiden hatte, ist die Gewerkschaft für die Beschäftigten staatlicher Behörden PCS. Hatte die PCS zu Beginn der 2000er Jahre noch 600.000 Mitglieder, sind es heute nur noch 190.000.

In ihrer Reaktion auf den Labour-Wahlsieg zeigte sich PCS-Generalsekretärin Fran Heathcote zwar erleichtert über das Ende der „grauenvollen Tory-Herrschaft“. Doch gleichzeitig formuliert sie klare Erwartungen an die neue Regierung: „Starmer muss sich mit uns an einen Tisch setzen und mit uns an ­einem Ende von Niedriglöhnen, Privatisierungen und Angriffen auf die Pensionen unserer Mitglieder arbeiten. Labour wurde von und für Arbeitnehmer*innen gegründet.“ Anlässlich der rechten Ausschreitungen sagt Heathcote: „Wir können nicht tatenlos zusehen. Wir fordern Arbeitgeber, Management und Regierungsminister auf, dringend zu handeln, ihre Mitarbeiter zu schützen.“

Tatsächlich war „Change“, also „Veränderung“ der zentrale Slogan von Keir Starmers Labour-Partei. Wie groß der Handlungsbedarf ist, zeigt sich dieser Tage. Inhaltlich geprägt war der Wahlkampf jedoch von dem Versuch, Labour als die „seriöseren“ Konservativen darzustellen, in Abgrenzung zum durch die ­Tories zu verantwortenden „Chaos“.

Als die Tories im Wahlkampf stärkere staatliche Investitionen versprachen, warf Starmers Labour-Partei den Tories einen „unverantwortlichen“ Umgang mit Staatsfinanzen vor, der ähnlich kritikwürdig wie die Pläne von Starmers Amtsvorgänger Jeremy Corbyn sei. Im Gegensatz zu ­Starmer hatte Corbyn eine radikale Abkehr vom Sparkurs sowohl konservativer als auch sozialdemokratischer Vorgänger­regierungen propagiert. Nach der Wahlniederlage vom Januar 2019 wurde ­Corbyn zunächst parteiintern isoliert, und schließlich von Starmer aus Parlamentsfraktion und Partei ausgeschlossen. Am 4. Juli trat ­Corbyn deshalb als unabhängiger Kandidat an. Seinen Wahlkreis im Norden ­Londons konnte er erfolgreich verteidigen.

Starmer hatte diese Möglichkeit zuvor bewusst in Kauf genommen. Wichtiger war ihm die Unterstützung durch das rechtspopulistische, zum Murdoch-­Imperium gehörende Boulevardblatt The Sun. Am Vorabend des Wahldonnerstags rief die Sun zur Wahl von Labour auf. Seit der Thatcher-Ära konnte keine Partei ­gegen diese Zeitung regieren. Von britischen Staatsführungen erwartet das Blatt klare Bekenntnisse zum „freien Markt“ und zu konservativen Wertvorstellungen.

Als Preis für die Unterstützung muss Starmer rechtsgerichteten Zeitungen wie der Sun jetzt Ernsthaftigkeit und Bereitschaft zu Haushaltsdisziplin beweisen. Was dies für den Umgang der neuen ­Regierung mit den Gewerkschaften bedeutet, könnte sich schon bald im Gesundheitswesen zeigen. Während des Wahlkampfes schwelten hier zahl­reiche, schon lange bestehende lokale und landesweite betriebliche Konflikte weiter.

Die prominenteste Auseinandersetzung führen dabei die Nachwuchsärzte im englischen staatlichen Gesundheitswesen, welches direkt dem britischen Gesundheitsministerium unterstellt ist. Seit dem Jahr 2008 sind die Nachwuchsärzte von Reallohnkürzungen betroffen. Beginnend mit dem 27. Juni führte die British Medical Association (BMA), die Interessenvertretung der Nachwuchsärzte, eine Reihe von eintägigen Streiks bis zum Wahltag am 4. Juli durch. Noch in seiner Rolle als gesundheitspolitischer Sprecher der Labour-­Partei versuchte Wes Streeting die Nachwuchsärzte von ihren Streiks abzubringen und rief diese auf, doch bitte erst das Wahlergebnis abzuwarten. Gleichzeitig erklärte er Ende Juni, er werde als Gesundheitsminister der Forderung der Nachwuchsärzte nach einer Gehaltssteigerung von 35 Prozent nicht nachkommen. Diese sei für den britischen Staat „nicht leistbar“.

Am 9. Juli hatten Vertreter*innen der BMA ihr erstes Treffen mit Streeting in ­seiner Rolle als Gesundheitsminister. ­Weitere Treffen sind anberaumt. Die gesamte britische Gewerkschaftsbewegung beobachtet sehr genau, wie die Gespräche verlaufen werden. Denn welchen Umgang Streeting in dieser ­Angelegen-heit findet, wird wesentliche Auswirkungen darauf haben, wie sich die britischen Gewerkschaften, und noch wichtiger: deren Mitglieder, gegenüber der neuen Regierung verhalten werden.