Jenny_Erpenbeck.jpg
Jenny ErpenbeckFoto: Hannes Jung/laif

ver.di publik: Hat sich Ihr Leben verändert, seit Sie den International Booker Prize bekommen haben?

Jenny Erpenbeck: Ich bin seit Wochen vor allem damit beschäftigt, Interviews zu geben – und komme gar nicht mehr zum Schreiben. Aber ansonsten geht’s mir natürlich sehr gut. Wenn man so ­einen Preis bekommt, kann man wohl kaum unzufrieden sein.

Neben den Huldigungen kam auch viel Kritik von einigen deutschen ­Medien...

Viel würde ich das jetzt nicht nennen. Es gab genau drei Menschen, die mich angegriffen haben, ansonsten gab es vor allem positive Berichterstattung. Aber es ist halt so: Wer am lautesten schreit...

Es hieß, Sie verherrlichten in Ihrem nun ausgezeichneten Roman „Kairos“ die DDR.

Nun ja, je größer der Preis, desto größer ist wohl auch die Attacke. Was die konkrete Kritik angeht: Wenn ich in einem Buch schreibe, dass Menschen Ende der 80er in der DDR auch ins Kino gegangen sind, Bücher gelesen und Musik gehört haben, dann halte ich das nicht für eine Verharmlosung der DDR, schon gleich gar keine Verherrlichung. Sondern für ein Zeichen, dass die Menschen damals auch lebendig waren. Tatsächlich hat mich die Kritik gewundert, denn ich finde ja, dass „Kairos“ mit der DDR durchaus hart ins Gericht geht. Ich finde es auch schwierig, dass ich für meine kommunistischen Großeltern quasi in Sippenhaft genommen werde.

Fritz Erpenbeck und Hedda Zinner waren beide angesehene Autor*innen in der DDR…

Sie waren zunächst einmal Antifaschisten und haben zwölf schwere Jahre in der Emigration überlebt. Dafür respektiere ich sie zutiefst. Aber ich bin ein ­eigener Mensch und habe als Schriftstellerin meine eigenen Themen und meinen Blick auf die Welt. Es wird manchmal auch übersehen, dass Figuren in einem Roman mehr und anderes sind als das bloß literarisch verbrämte Sprachrohr der Autorin. Hier wird Literatur durch ­eine ideologische Brille betrachtet, werden bestimmte Positionen eingefordert, beinahe wie in der DDR – wenn auch politisch unter anderen Vorzeichen.

In der „Zeit“ wurde Ihnen vorgeworfen, Sie hätten ein „ideologisches Programm“, würden „einen wohlgesinnten, gar liebevollen Blick auf den Sozialismus“ werfen.

Ein Roman ist kein ideologisches Programm. Und wer sagt denn, welche Erinnerung stimmt, wessen Geschichte die richtige ist? Man muss doch die Gesamtheit aller Geschichten sehen, wenn es um die Historie geht. So, wie das Kempowski mit seinem „Echolot“ gemacht hat. Ich verstehe, dass jemand, der andere Erfahrungen in der DDR gemacht hat, auch ein anderes DDR-Bild zeichnen wird – und finde es wichtig, dass all diese Geschichten erzählt und wahrgenommen werden.

Teil des Vorwurfs ist, Ihr Buch würde mittlerweile den allgemeinen Blick auf die DDR und ihre Geschichte bestimmen, dass Sie die Deutungshoheit übernommen hätten.

Ich kann mich ja nun schlecht dafür entschuldigen, dass ich den Preis bekommen habe. Und ich glaube auch nicht, dass ein einzelner Roman wirklich die Deutungshoheit übernehmen kann. Aber wenn dem so sein sollte, finde ich es nicht verkehrt, dass nach fast zwanzig Jahren, in denen der Film Das Leben der anderen das Bild der DDR im Ausland bestimmt hat, auch einmal ein anderes Bild gesehen wird. Es kann doch nicht schaden, wenn die Sicht auf die Vergangenheit, gerade auf die Zeit nach dem Mauerfall, etwas differenzierter wird. Auf die Euphorie der Vereinigung ist bei vielen Ernüchterung gefolgt, auch Existenzangst. Es gab plötzlich Meinungsfreiheit, aber der Job war halt auch weg. Das muss man beides erzählen. Ich empfinde die Freiheit auch nicht als Geschenk der Bundesrepublik, sondern als etwas, was sich die Leute im Osten selbst erkämpft haben.

In „Kairos“ habe ich aber etwas viel Grundsätzlicheres versucht. Zum einen schildere ich einen Umbruch, einen Systemkollaps, mit dem zwei verschiedene Generationen ganz unterschiedlich umgehen. Darüber hinaus ist das Buch vor allem eine Liebesgeschichte, und nicht zuletzt ist es auch die Geschichte eines Missbrauchs. Ich erzähle Tragödien, unter anderem auch die eines gescheiterten Landes.

Haben Sie diese missbräuchliche Liebesgeschichte bewusst als Allegorie auf die Geschichte der DDR angelegt, als die sie mitunter gelesen wird?

Tatsächlich habe ich den großen Altersunterschied zwischen Hans und Katharina eingeführt, damit ich einerseits die Vorgeschichte der DDR, aber auch die Nachgeschichte erzählen konnte. Die beiden sollten vollkommen verschiedene Erfahrungshorizonte haben. Dennoch sind sie sich zunächst einig in ihrer Flucht ins Private. Während um die Ecke die ­historischen Momente der großen Geschichte passieren, schließen sie sich ein und sind mit der Aufarbeitung ihrer schwierigen Beziehung beschäftigt. Dass die Krise im Privaten mit der politischen Krise verwoben sein würde, war Absicht – aber tatsächlich habe ich manche konkreten Parallelen erst beim Schreiben registriert. Wie zum Beispiel das Fassadenhafte heranwächst: So wie es in der Beziehung zwischen Katharina und Hans immer schwerer und schließlich unmöglich wird, Gefühle wahrhaftig auszudrücken und darüber zu sprechen, so hatte auch die offizielle Sprache in ihrem Land keine Verbindung mehr zur Realität, zu den Leuten. Die Wirtschaft war marode, die Leute wollten endlich reisen, doch wer das aussprach, kam ins Gefängnis. Wenn aber in einer Gesellschaft die Sprache in der Krise ist, wird die Gesellschaft handlungsunfähig.

Sie geben auch vielen ausländischen Medien Interviews. Sind Sie da vor allem die große DDR-Erklärerin?

Die Rolle der Ost-Erklärerin wird mir vor allem in Deutschland zugeschoben. Natür­lich werde ich auch im anglo-­amerikanischen Raum viel nach der DDR gefragt, aber da gibt es eine andere Art von historischem Interesse an der deutsch-deutschen Geschichte, das nicht durch die Klärung irgendeiner Schuldfrage verstellt ist. Und es gibt im Ausland einen größeren Respekt vor dem Roman als Kunstwerk. Die fragen mich auch mal nach den verschiedenen Zeitebenen im Roman oder anderen literarischen Aspekten. Auffällig ist auch, dass die ausländischen Medien die missbräuchliche Beziehung, die ich erzähle, interessiert. Da schaut in Deutschland kaum einer hin. Im Ausland versteht man, dass es eine universelle Liebes- und Leidens­geschichte zwischen zwei Menschen mit einem großen Altersunterschied ist, wie sie genauso auch in Peru, China, Argentinien oder Amerika passieren könnte.

Sie sind bei all ihren Erfolgen Gewerkschaftsmitglied im Verband Deutscher Schriftsteller in ver.di geblieben. Warum ist Ihnen das wichtig?

Das ist zum einen eine Familientradition, schon meine Mutter war bei ver.di. Aber ich finde es auch wichtig, dass man sich gerade in so einem freien Beruf organisiert, in dem sonst alle Einzelkämpfer sind. Und dass die, die es einigermaßen geschafft haben, die unterstützen, denen es noch nicht so gut geht.

INTERVIEW: Thomas Winkler

Jenny Erpenbeck

wurde 1967 in Ost-Berlin geboren, ihre Mutter war renommierte Übersetzerin aus dem Arabischen, ihr Vater Physiker, Philosoph und Schriftsteller. Nach einer Lehre als Buchbinderin studierte sie Theaterwissenschaften und Regie, assistierte Heiner Müller und arbeitete als Regisseurin. 1999 erschien ihr erstes literarisches Werk; für spätere Romane wurde sie immer wieder ausgezeichnet. Für ihren Roman Kairos bekam sie den Uwe-Johnson-Preis und kürzlich als erste deutsche Autorin den International Booker Prize, die wichtigste Auszeichnung im anglo-amerikanischen Raum für nicht-englische Literatur. Erpenbeck gilt als Anwärterin auf den Literaturnobelpreis.