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Blick ins Valbona-Tal, das unter Naturschutz steht, von einem der drei „Gipfel des Balkans“Renate Koßmann

Ohne Glendi geht hier nichts. Durchs Unterholz, durchs Dickicht – Glendi, unser Guide in den Albanischen Alpen, geht Wege, wo keine mehr sind. Vielleicht auch nie welche waren. Doch nach eineinhalb Stunden lichtet sich an diesem kühlen Oktobermorgen das Dornengestrüpp, und unter den Wanderschuhen windet sich ein kleiner Pfad an einer ­Ruine vorbei in ein offenes Tal, links und geradezu begrenzt von steil aufsteigenden sandsteingestrahlten Bergmassiven. Der Blick weitet sich, der Kopf denkt, wow, wie schön. Aber wie kommen wir da jetzt rauf? Die Sonne zeigt inzwischen, zu welchen Temperaturen sie heute noch hinaufwill. Und unser Ziel ist das Joch dort oben links zwischen den beiden höchsten Gipfeln. Dort, wo Glendi gerade hinaufzeigt.

Die Albanischen Alpen tragen ihren Namen zu Recht. Sie sind anspruchsvoll, so wie ihre Namensvetter im Norden ­Europas. Es ist der vierte Tag unserer 7-tägigen Tour in einer 13-köpfigen Wandergruppe. Zwei sind heute vorerst ausgestiegen. Der eine wegen übersäuerter Muskeln, die andere aus Furcht vor ­einem weiteren steilen Auf- und Abstieg. Und gleich wird auch noch der Großteil der Verbliebenen, acht an der Zahl, durchs Tal zurück ins Guesthouse gehen. Der Weg durchs Dickicht über umgestürzte Bäume und glitschige Wasser­läufe hat ihnen für heute gereicht. Zu dritt machen wir uns mit Glendi auf den Weg zum Joch.

Aus dem Nichts, ins Nichts

Den meisten stecken noch die letzten Tage in den Knochen. Begonnen hatte alles vor drei Tagen mit einer teils ruckeligen Minibus-Tour in aller Herrgottsfrühe von Shkodra, der größten Stadt im ­Norden Albaniens, zur Fähre an den ­Koman-See. Die mit Schlaglöchern gesegnete Straße dorthin endet abrupt ­hinter einem kurzen Tunnel durch zwei Felsen auf abschüssigem, steinigem Gelände, ungefähr so groß wie zwei Drittel eines Basketballfeldes, auf dem Menschen und Gepäck abgeladen werden und andere Autos und Kleinbusse gleichzeitig versuchen zu wenden, um die Rückfahrt antreten zu können.

Die Sonne hat es noch nicht über den Berg geschafft, es ist kalt und im einzigen Büdchen am Anleger wird das Teewasser auf dem Ofen zum Kochen gebracht. Schließlich taucht an der Biegung des Sees am Horizont die Fähre auf, mit der es, nachdem alle und alles an Bord verstaut sind, drei Stunden durch den sich immer wieder um Felsmassive windenden See ins Valbona-Tal geht. Aus dem Nichts tauchen Menschen auf, die an mehreren Anlegestellen dazu steigen. Ins Nichts verschwinden die, die aussteigen. Irgendwo hinter den Bergen liegen die Dörfer, in die sie wollen. Ihr Gepäck müssen sie bis dorthin schleppen. Kein Fahrzeug schafft es an diese Anleger, Packesel sind rar.

22 Kilometer, 1.325 Höhenmeter

Je weiter die Fähre ihre Fahrt fortsetzt, desto schmaler wird der See und umso steiler die Bergmassive um uns herum. Abschnittsweise ist das atemberaubend, jedenfalls für die Passagiere, die diese Strecke zum ersten Mal fahren. Die Einheimischen machen ein Nickerchen oder quatschen miteinander. Neben dem Staunen lernen wir unsere Gruppe kennen, Durchschnittsalter Ende 50, vier Pärchen, fünf Single, darunter wiederum eine Teilgruppe – drei Paare, ein Single –⁠, die schon seit Jahren einmal im Jahr zusammen verreist, abends munter Karten zockt und dabei alte Geschichten zum Besten gibt. Für Wanderlieder zur allgemeinen Unterhaltung und Motivation wird die Fotografin an meiner Seite die kommenden Tage sorgen.

Von der Fähre geht’s noch einmal kurz mit einem noch kleineren Bus und Halt zum Mittagessen irgendwo in die Pampa, von wo wir ohne Gepäck – das wird von jetzt an transportiert, auch mal von Maultieren – zu unserem ersten Guesthouse spazieren. Die Familie, die es betreibt, hat wie viele andere hier, zwei Stockwerke auf ihr Haus aufgestockt und einfache Gästezimmer eingerichtet. Am Abend gibt es unten in der Wohnstube leckeres Essen. Bohnensuppe, Hähnchenkeulen, Salat, Reis, Pommes, Brot, Ziegenkäse und Nachtisch. Neben dem langen Tisch bollert der Ofen. Sobald die Sonne untergegangen ist, fallen die tagsüber noch sommerlichen Temperaturen empfindlich auf deutlich unter 10 Grad. In den nicht beheizbaren Gäste­zimmern tun in der Nacht warme Decken ihren Dienst.

Am kommenden Tag steht uns die längste Wanderung bevor. Rund 22 Kilo­meter, insgesamt 1.325 Höhenmeter bis auf 2.300 Meter Höhe zum Grenzstein nach Montenegro. Schon an diesem Tag schaffen es nicht alle bis ganz nach oben. Sie verweilen unterhalb des Rosit-Gipfels beim letzten Almbauern, der eisgekühlte Getränke und selbstgemachten Raki anbietet.

Zu verdenken ist es ihnen nicht, lieber zu rasten, als weiter Glendi hinterher zu stapfen. Der bewegt sich in Flipflops wie eine Gazelle die Berge rauf und runter, weicht auch dafür immer wieder von den Wanderpfaden ab. Dass beim Abstieg irgendwann ein Flipflop reißt – kein Wunder. Dann eben rein in die Sneakers. Alles kein Problem für Glendi. Er ist 26 Jahre jung, hat nach eigenen Angaben Psychologie studiert, Nietzsche, Jung, Freud und Co. gelesen, sagt: „Ich liebe die ­Menschen“, liebt aber noch viel mehr die Berge, was nicht zu übersehen ist.

Der ultimative Backpacker-Tipp

Zurück im Guesthouse wissen wir alle, was wir geschafft haben. Die Füße und Beine möchten nur noch in die Waagerechte. Morgen, am dritten Tag, geht es wieder hoch hinaus. Zwar nur auf einer Strecke von 16,5 Kilometern, aber mit nicht weniger Höhenmetern, geht es über den Peja-Pass vom Valbona-Tal ins Tal von Theth. Zum ersten Mal treffen wir auf Massen junger Leute. Albanien ist unter Backpackern aktuell der ultimative Tipp und diese Wanderroute gehört ins Rucksackprogramm zu den sogenannten „Gipfeln des Balkans“ im Dreiländereck Albanien, Kosovo und Montenegro. Die einen nehmen es sportlich, andere haben offensichtlich keine Ahnung, was sie erwartet, aber alle schaffen es über den Berg und feiern es in der Almhütte auf dem Abstieg mit ordentlich Bier und Raki. Das betäubt vor allem die schmerzenden Blasen derjenigen, die meinen, Sandalen sind das passende Schuhwerk für die Berge.

Unsere Gruppe hat sich beim Aufstieg weit auseinandergezogen. Vorneweg Glendi, der aber immer wieder wie ein Hirte zum Ende der Gruppe zurückläuft, um sie zusammenzuhalten, und direkt wendend wieder zur Spitze aufschließt. Am Ende, kurz vorm Ziel im Tal, dann ein Kreislaufzusammenbruch bei einem Gruppenmitglied und Puddingbeine und völlige Erschöpfung bei einem anderen.

Und nun stehen wir tags drauf dezimiert vor dem nächsten Aufstieg. Auch von den vielen jungen Menschen ist ­heute keine Seele zu sehen. Nach dem Abschied von den anderen, macht sich unsere Kleingruppe auf nach oben zum Joch, in Serpentinen auf einem steinigen Pfad. An jeder Biegung öffnet sich ein neuer imposanter Blick auf das gar nicht so karge Gebirgsmassiv. Sträucher und kleine und größere Bäume scheinen aus den Felsen zu wachsen. Vom Joch steigen wir noch hinab zu einem Bergsee, kühlen unsere Füße, dann geht’s wieder ins Tal. Nach insgesamt neun Stunden sind wir zurück an unserem Guesthouse in Theth, einem alten herrschaftlichen Gebäude, an dem der Zahn der Zeit nagt.

Der zunehmende Tourismus vor allem hier im Tal von Theth mag eines Tages das Geld eingebracht haben, um die vielen alten Häuser vor dem Verfall zu retten und den Menschen hier ein bescheidenes, aber sicheres ­Einkommen zu bescheren. Längst entstehen auch erste schnieke Hotels. Ob es den Bergen guttut, wenn immer mehr Touristen kommen, für den Skitourismus Hänge gerodet werden – davon wissen die Alpenbewohner im Norden einige Lieder zu singen.

Unsere letzten beiden, etwas leichteren Wanderungen durchs Tal von Theth und durch den Indian Summer voll goldrot-leuchtendem Laub laufen wir wieder nahezu in geschlossener Gruppenstärke. Ein letztes Gruppenfoto am Wasserfall gehört dazu, genauso wie der köstliche Honig-Walnuss-Joghurt, der uns alle nach dem letzten schweißtreibenden Aufstieg zu einer Bergraststätte erfrischt, bis unser Bus kommt.

Statt dem Geruch der Zirbelkiefern, die hier überall wachsen, erwarten uns nach drei Stunden Fahrt die Abgase der albanischen Hauptstadt Tirana. Wir haben es alle bis hierher auf die eine oder andere Art geschafft. Einen besseren Wanderführer als Glendi hätten wir uns nicht vorstellen können. Der ist sichtlich gerührt über das Geld, dass wir für ihn gesammelt haben. „Jetzt kann ich mir Flipflops für die nächsten Jahre kaufen“, sagt er. Und: „Das ist alles zu viel für mich.“ Zum ersten Mal schwächelt auch er.

Wir durften für diese Reportage eine Gruppenreise von „Berge & Meer“ begleiten, einer der noch wenigen Anbieter für Wandertouren in Albanien.