Ausgabe 06/2024
Druck auf Dauer
Es gibt Tarifrunden, die endlos erscheinen und von allen Beteiligten eine Menge abverlangen. In diesem Jahr haben die ver.di-Mitglieder in den Tarifrunden im Einzel- und Versandhandel und im Groß- und Außenhandel/genossenschaftlichen Großhandel mehr als zwölf Monate um ein Verhandlungsergebnis gekämpft.
„Dass die Arbeitgeberseiten beider Branchen ab Mitte November 2023 für ein halbes Jahr die Verhandlungen abgelehnt haben, war eine Situation, auf die wir uns erst einmal einstellen mussten“, sagt Torsten Furgol, ver.di-Fachbereichsleiter für den Handel im Landesbezirk SAT. Die Herausforderung bestand darin, über die lange Dauer der Tarifrunde Druck auszuüben, die Streikwellen konstant hochzuhalten, für Unruhe und Einschränkungen im Betriebsablauf zu sorgen.
Insgesamt kamen in der Tarifrunde 120.000 Personenstreiktage zusammen. Der ver.di-Landesbezirk SAT umfasst die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Das bedeutet hunderte Einzelhandelsfilialen und dutzende Großhändler, die aus Lagerstandorten versorgt werden. Ohne deren Zulieferungen sind Engpässe programmiert.
Ralf Büttner, 58, ist einer von ungefähr 500 Beschäftigten im Netto-Zentrallager Thiendorf. Als Kraftfahrer sorgt er täglich dafür, dass Nachschub an Waren in den Netto-Filialen ankommt. Das Versorgungsgebiet erstreckt sich über die drei Bundesländer. Das erfordert bei der Koordinierung der Streiks logistisches Herangehen. Schließlich sollten es die Arbeitgeber schwer haben, Gegenmaßnahmen zu planen.
Der gelernte Lokschlosser Büttner heuerte 2004 bei Netto an. „Wir hatten eine weitestgehend konstante Streikbeteiligung, getragen von der Erwartung, dass sich die Einkommensschere zwischen den sächsischen Gehältern und denen in den anderen Bundesländern endlich spürbar schließen würde“, sagt er. Die Hoffnung, auf dem Wege eines „Sachsenzuschlages“ diesem Ziel näher zu rücken, ließ sich aber leider nicht erfüllen. Auch nach dem Tarifabschluss klafft weiter eine Lücke von bis zu 350 Euro im Monat. Im Ländervergleich behält Sachsen damit weiter die rote Laterne. In der nächsten Tarifrunde wird Ralf dennoch wieder mit dabei sein, wenn es darum geht, Flagge zu zeigen. Den Versuchen des Arbeitgebers, ihn mit ständig sich ändernden Arbeitszeiten zu zermürben, muss er mit Unterstützung seiner Gewerkschaft widerstehen. Auf den Betriebsrat kann er dabei wenig zählen, der stehe dem Arbeitgeber zu nahe.
Von Landsberg bis nach Leipzig
Wie wichtig Lagerstandorte für ein Unternehmen sind, weiß auch Tino Rößler. Der 53-Jährige arbeitet seit 30 Jahren bei Edeka. Von Landsberg in Sachsen-Anhalt werden nicht nur die dortigen Edeka-Filialen beliefert, sondern auch der Konsum in Halle und Leipzig.
Wenn er auf die Streiktage zurückblickt, verspürt er eine Mischung aus Stolz und Enttäuschung: „Dass wir mit 60 bis 80 Streikenden begonnen haben, macht mich als einer der Organisatoren schon etwas stolz, wenngleich sich die Zahl an manchen Tagen halbiert hat.“ Die Gründe lägen auf der Hand: Befristet Beschäftigte hoffen auf eine Festanstellung, Azubis bewerben sich um die Übernahme und die Möglichkeiten, sich gemeinsam zu versammeln, seien durch Absperrmaßnahmen zur Vorbereitung von Bauvorhaben eingeschränkt worden, die bis heute nicht begonnen haben.
Tino macht auch kein Hehl daraus, dass „man mit dem Abschluss leben müsse“. Er schlägt vor, künftig mehr Betriebe zeitgleich zur Arbeitsniederlegung aufzurufen. Die Kräfte bündeln, um damit auch den Personaleinsatz der zahlreichen Unterstützer aus den Reihen der hauptamtlichen ver.di-Beschäftigten effektiver steuern zu können. „Es hat uns schon motiviert, dass wir nicht alleingelassen wurden. Andere Fachbereiche standen uns ebenso zur Seite wie die Mitarbeiterinnen aus dem Bezirk Sachsen-Anhalt Süd.“ In seiner Funktion als stellvertretender Landesfachbereichsvorsitzender bedankt er sich auch im Namen aller Ehrenamtlichen bei den Hauptamtlichen: „Ihr wart Klasse!“ Denn er weiß: Nur wenn die Fahrzeuge rollen, sind die Regale in den Filialen gefüllt!
Das kann Marina Lorenz bestätigen: „Nicht wenige Kundinnen und Kunden vermissten während der Streikmonate ihre gewohnten Artikel oder standen vor leeren Regalen.“ Marina ist freigestellte Betriebsratsvorsitzende bei Netto mit Sitz in Guteborn bei Meerane und Mitglied der Tarifkommission. Seit 2018 gehört sie zum Betriebsratsteam, vertritt über 15.000 Beschäftigte in der mitteldeutschen Region bis über die Landesgrenze nach Brandenburg. „Unsere Mitarbeiter*innen haben über 100 Streiktage hingelegt, den Drohungen der Arbeitgeberseite getrotzt, den Verlockungen von Einkaufsgutscheinen widerstanden und die Motivationsdelle zu Beginn des Jahres überwunden“, sagt sie. Und natürlich habe die Dauer der Verhandlungen an den Nerven gezerrt. Wenn dann aber die Meldungen kamen, dass einzelne Filialen wegen des fehlenden Personals nicht öffnen konnten, sei das immer wieder ein kleiner Motivationsschub gewesen.
Wo sind Reserven, wo ist es gut gelaufen?
„Die nächsten Verhandlungen werde ich wahrscheinlich nicht mehr aktiv begleiten. Ich wünsche mir, dass in der Nachbetrachtung genau darauf geschaut wird, wo es noch Reserven gibt und was richtig gut gelaufen ist. Die lange Laufzeit des Tarifvertrages ermöglicht eine breite und ausführliche Diskussion“, sagt Marina.
Tarifauseinandersetzungen, die durch Arbeitskämpfe begleitet werden, sind nicht nur für die Beschäftigten eine besondere Situation. Auch die Arbeitgeber müssen sich darauf einstellen und handeln natürlich im Interesse des Unternehmens. Die Handlungsspielräume sind offensichtlich vielfältig, wie Michele Wetzel von IKEA in Erfurt bestätigt: „Unsere Geschäftsleitung hat sich sehr fair gegenüber den Streikenden verhalten. Für sie stand im Vordergrund, dass der Geschäftsbetrieb, wenn auch mit Einschränkungen, weiterläuft.“ Michele ist einer der Aktivposten im Unternehmen – ausgezeichnet als aktivster Werber, freigestellter Betriebsrat und Mitglied der Tarifkommission seit nunmehr 18 Jahren.
„Als IKEA im Jahre 2005 in Erfurt eröffnete und Mitarbeiter suchte, stand bei mir eine berufliche Neuorientierung an. In der Logistikbranche war ich zu Hause, habe bei der Bundeswehr viele Erfahrungen sammeln können und wollte nicht in meinen gelernten Beruf als Forstwirt zurück.“ Jetzt steht der 48-Jährige vor seinem 20. Firmenjubiläum.
„Die Tarifrunde war in der Tat kräftezehrend. Mehr als 40 Tage haben wir mit relativ konstanter Beteiligung gestreikt, eine „Motivationsdelle“ am Jahresende gemeinsam durchgestanden und die Auseinandersetzungen mit den Beschäftigten ausgehalten, die sich uns nicht anschließen wollten. Bestärkt haben uns auch viel Kunden, die sich solidarisch zeigten“, sagt Michele. Spurlos sei das Ganze nicht an den Streikenden vorbeigegangen. „Nach dem Abschluss hielten sich Erleichterung und Zufriedenheit mit der prozentualen Höhe der Gehaltsanhebungen die Waage.“ Michele bleibt weiter am Ball, sein Credo: „Wenn wir mehr wollen, müssen wir mehr werden“, bedarf keiner Kommentierung!
Das Ergebnis wird überall unterschiedlich bewertet. Einigkeit besteht aber darin, dass nur durch die Einbeziehung von weiteren Unternehmen eine geschlossene Streikfront aufgebaut werden konnte. „Mein Dank gilt natürlich auch den ver.di-Mitgliedern bei Phönix und Rewe, bei der Metro, bei Bofrost und Selgros. Die Kaufländer waren immer da, wenn sie aufgerufen wurden. Aldi und Primark, H&M, Hermes Fulfilment, Esprit und Penny – die Aufzählung der beteiligten Firmen ließe sich fortsetzen“, sagt Torsten Furgol. Sein Dank geht aber auch an sein hauptamtliches Team, das professionell und nicht selten bis zur Erschöpfungsgrenze gearbeitet habe. Dass sich der Einsatz gelohnt hat, zeigen auch hier die Zahlen: Platz 1 in der Mitgliederentwicklung – sowohl im Bundesfachbereich als auch im Landesbezirk über alle Fachbereiche hinweg!